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KAPITEL 6. Silke erzählt:
Jetzt wo ich den gegelten Designerjeans-Träger das zweite Mal vor mir sitzen habe, wird er mir tatsächlich immer sympathischer. „Leon“, wie aus seinen Unterlagen hervorgeht, besitzt ein wirklich einnehmendes Lächeln, das seine grüngrauen Augen förmlich aufleuchten lässt. Für seine 35 Jahre wirkt er angenehm unkonventionell, was in meinem beamtischen Berufsumfeld leider die Ausnahme ist. Natürlich entspricht nicht jeder Beamte oder Angestellte im Öffentlichen Dienst dem typischen Klischee, aber für meinen Geschmack kommt das immer noch zu oft vor. Kollege Ingo zur rechten Seite ist so ein Beispiel. 28 Jahre jung, also noch jünger als ich, und konventionell bis zum Anschlag. Für seinen schütteren Haarwuchs kann er ja nichts, aber muss er sein Inneres unbedingt dem Äußeren anpassen. „Fräulein Groß“ nannte er mich bis vor kurzem noch. Aber auch er hat inzwischen begriffen, dass man sich selbst vor Kunden duzen kann. Jetzt bin ich also „Silke“ für ihn und er kann mir ungeniert in den Ausschnitt schielen, wenn ich mich zu ihm hinüberbeuge. Passiert ja oft genug, so wie er mit dem Rechner kämpft. Fast könnte man meinen, er macht das absichtlich.
Leon Jeschke und ich sind jetzt mit den Formalitäten so weit fertig, dass ich ihn zum vorletzten Mal verabschiede und mein „Dieser Platz ist zur Zeit nicht besetzt“-Schild auf den Tresen stelle. Kurze Pause, schnell was kopieren und die separat gelegenen Waschräume aufsuchen.
Zuerst betrete ich die neongrelle Damentoilette und betrachte mich beim Händewaschen im Spiegel. Mein Busen drängt aus dem BH. Das verdammte Ding wird schon wieder zu klein und dann in Kombination mit der engen Bluse... Kein Wunder, dass Thekla Meier aus dem zweiten Stock mir heute beim Betreten des Gebäudes zugezischt hat: „Pass bloß auf, dass man deine Mopedlampen nicht sieht!“
Mopedlampen, Tellernippel – seitdem ich im Sommer mit ein paar Kollegen im Freibad war und das Bikini-Oberteil dabei verrutscht ist, muss ich mir hin und wieder solche Sprüche anhören. Mit einem Durchmesser von fast sechs Zentimetern passen sie meiner Meinung nach perfekt zu meinen Brüsten, sind aber, wie diese auch, für die deutsche Durchschnittsbürgerin etwas aus dem Ruder geraten.
Okay, also alles mit ein paar Griffen wieder gut verstauen, die Unterlagen unter den Arm klemmen und auf zum Kopierer.
Auf dem Rückweg komme ich an der kleinen Cafeteria vorbei. Die Stehtische stehen schön ungünstig im Weg herum, aber sonst wäre kein Platz gewesen, um sie irgendwo im Gebäude unterzubringen. In Gedanken blättere ich meine Unterlagen durch und – laufe natürlich frontal in jemanden hinein.
Ingos letzter Kunde. Ich kann mich noch gut an die Lederjacke, die langen blonden Haare und die blauen Augen erinnern. Natürlich hält er einen Kaffeebecher in der Hand und genauso natürlich lässt er sich dessen Inhalt auf die Hose kippen. Na ja, ein Rest scheint noch drin geblieben zu sein.
Reflexartig lasse ich meine kopierten Unterlagen fallen, die sich zum Glück neben der Kaffeelache auf dem Fußboden ausbreiten und schlage entsetzt die Hände vor den Mund. Eine alberne Geste, aber da kann ich nichts machen.
Der Typ flucht mich an, ich entschuldige mich geschockt und hocke mich schnell auf den Boden, um meine Papiere wieder einzusammeln. Mein Unfallopfer hockt sich zu mir und mir schwant Schlimmes. Seine Jeans sind im Schritt total durchnässt. Das könnte sogar schmerzhaft sein. Unser Kaffee hier im Haus ist heiß. Aber er fragt nur, ob er mir helfen kann, wie ich da so fahrig nach meinen Unterlagen grabsche. Und was sage ich?
„Ganz schön heißes Höschen, was?!"
Er grinst mich an und erwidert etwas, was ich vor lauter Blutrauschen im Ohr gar nicht richtig mitbekomme. Und dann platzt mir die Bluse...
Hastig raffe ich die restlichen Blätter zusammen und klemme sie unter einen Arm, während ich die verdammten Knöpfe wieder durch die dafür vorgesehenen Löcher friemle. Mopedlampen-Alarm war zum Glück nicht, aber so wie der Typ mich anschaut, hat er offenbar für seinen Geschmack genug sehen können. Die Dinger haben sich auch wieder ein ganz schönes Stück weit aus dem BH nach oben schieben können. Selbst mit geschlossenen Knöpfen kann man noch einiges erkennen.
Mein Gesicht glüht und ich frage ihn verlegen, wie ich das wieder gutmachen kann. Und daraufhin lädt der Kerl mich tatsächlich zum Essen ein. Bevor ich ihn fragen kann ob er mich mit Selbstgekochtem vergiften will, schlägt er ein Lokal vor: „El Sombrero“, um 19 Uhr. Nicht schlecht.
Ich sage „Ja“, gebe ihm verlegen lächelnd meine Handynummer und verschwinde, nach wie vor schamrot, aus seinem Blickfeld.