Als die Tür ins Schloss fiel, zuckte Anton zusammen. In all den Jahren, in denen Frau Wolf ihm nun schon den Haushalt führte, war es ihr nicht anzugewöhnen gewesen, Türen leise zu schließen. Das war aber auch schon der einzige Negativpunkt bei Frau Wolf. Irgendwas jenseits der Vierzig, kümmerte sie sich aufmerksam und vor allen Dingen nahezu unsichtbar um sein Haus. Sie putzte, wusch die Wäsche und kochte auch hin und wieder für ihn. Doch, die Symbiose Wolf/Bergmaier funktionierte reibungslos.
Anton Bergmaier, Senior Vice President einer Privatbank in der Schweiz, leitete mit seinen 51 Jahren die deutsche Dependance eben dieser Bank. Die meisten Niederlassungen in Europa hatten, wie das Mutterhaus auch, in der Krise Federn lassen müssen. Die deutsche Tochter nicht. Das lag vor allen Dingen daran, dass Anton sein Handwerk von der Pike auf bei der örtlichen Raiffeisenbank gelernt hatte und während seines Studiums von einem genialen Professor gelernt hatte, sich nicht dem schnellen Geld hinterher zu werfen. Umsichtig und konservativ hatte er seine Kunden beraten und seinen Mitarbeitern immer und immer wieder vorgekaut, dass das schnelle Geld auch Risiken in sich barg. Die Kunden der Bank waren solvente Geschäftsleute, einige Künstler und natürlich ein Teil des alten Adels, der immer noch, wenn auch ziemlich versteckt, seine Finger in vielen Geschäften hatte.
Anton war verschwiegen und loyal. Kunden die zu ihm kamen wussten, dass alles, was sie ihm anvertrauten, auch nur bei ihm blieb. Doch, Anton war mit sich und seiner Leistung zufrieden. Der CEO des Mutterhauses sah das genauso. Beim alljährlichen Jahresabschlussmeetings vor zwei Tagen in Zürich, hatte er ihn auf die Seite genommen und ihm angekündigt, dass er damit rechnen konnte zur Jahresmitte als Vorstand für das operative Geschäft in das Board aufgenommen zu werden. Anton hatte diese Ankündigung mit einer stummen Verbeugung entgegen genommen. Er war kurz vor dem Ziel. Ziemlich euphorisch war er am nächsten morgen zurück geflogen, hatte, als sei nichts gewesen, seinen Arbeitsplatz in der Bank aufgesucht und war zur Tagesordnung übergegangen.
Der Jahresabschluss stand bevor. Früher, während seiner Lehrzeit, war das eine langwierige Sache gewesen. Er konnte sich gut daran erinnern, wie er spät Abends in der Kreditabteilung Avale gerechnet hatte, während die Kollegen schon dabei waren, den kalt gestellten Sekt zu konsumieren. Heute übernahm die EDV die ganze Angelegenheit. Anton war froh drüber. Nach Ende der Öffnungszeit dauerte es nur noch zwei Stunden, dann stand das Ergebnis seiner Filiale fest. Und dieses Ergebnis übertraf noch die Vorausschau, mit der er in Zürich aufgewartet hatte. Er hatte die Kollegen in den großen Sitzungssaal gerufen, mit Ihnen auf das erfolgreiche vergangene Jahr und ein hoffentlich genauso erfolgreiches neues Jahr angestoßen. Man hatte geplaudert und sich an dem Buffet gütlich getan, dass er traditionsgemäß bestellt hatte. Dann war jeder seines Weges gegangen.
Anton hatte den Abend in seiner Lieblingsbar ausklingen lassen. Seinen bevorzugten Cocktail, einen Mai Thai bestellt und dem Pianisten gelauscht, dessen beruhigendes Spiel ihn auf die bevorstehenden Feiertage einstimmte. Gegen Mitternacht hatte er die Bar verlassen und war mit dem Taxi nach Hause gefahren. Er hatte sich ins Bett gelegt und so lange tief und traumlos geschlafen, bis Frau Wolfs Staubsauger ihn unsanft aus dem Schlaf holte. Sein Frühstück stand schon bereit und er genoss diese Mahlzeit endlich einmal ohne Hetze. Mit der Zeitung und einer weiteren Tasse Kaffee ausgerüstet, hatte er sich in seine geliebte Bibliothek verkrochen und genoss den Vormittag. Dann hatte Frau Wolf schüchtern an die Tür geklopft und sich verabschiedet.
Jetzt war er alleine im Haus und die große Ruhe und Einsamkeit konnte beginnen. Das war nicht immer so gewesen. Erst seit seine Frau ihn wegen eines Anderen verlassen und die damals halbwüchsige Tochter mitgenommen hatte, war er gezwungener Maßen auf den Geschmack der einsam verbrachten Feiertage gekommen. Damals hatten sie Sylvester immer mit Freunden gefeiert. Jetzt blieb er alleine. Seine Tochter, inzwischen volljährig, war mit ihrem Freund über den Jahreswechsel ins Stubaital zum gefahren. Seine Exfrau, nun, mit ihr hatte er seit Jahren kein Wort mehr gewechselt und Freunde hatte er keine. Höchstenfalls Bekannte.
Als es dämmerte, hielt er die Zeit für gekommen, sein ganz persönliches Sylvesterritual zu beginnen. Er feuerte den Kamin an und ging langsam in sein Büro. Dort nahm er den Aktenkoffer und legte ihn sachte auf den alten Kirschholzschreibtisch. Mit einem zweimaligen, sanften Klacken öffneten sich die Schlösser. Der abgegriffene, in Bordeauxfarbenes Leder gebundene Terminplaner lag zuoberst auf den Zeitungen. Fast zärtlich nahm Anton dieses steinzeitlich anmutende Relikt vergangener Tage aus dem Koffer und ging damit zurück in die Bibliothek. Ein Jahr lang, zwölf Monate, 365 Tage hatte ihn dieses Buch begleitet, hatte seinen Tagesablauf bestimmt. Wie ein Freund war es ihm geworden, doch jetzt waren seine Stunden gezählt. Noch einmal würde er Seite um Seite umblättern, lesen und sich zurück erinnern, was dieses Jahr gebracht hatte.
In einem besonderen Regal seiner Bibliothek, stand eine ganze Reihe dieser Bücher und es war noch genug Platz für die Kalender, die noch folgen würden. Liebevoll strich Anton über die Rücken der Kalender. Dann goss er sich einen Portwein ein, stellte die Leselampe zurecht und machte es sich in seinem Lieblingssessel bequem. Aus den Lautsprechern seiner Audioanlage klang leise Musik und die vereinzelten Böller, die die Jugendlichen jetzt schon abfeuerten drangen nur wenig in sein Unterbewusstsein. Anton nahm einen ersten Schluck seines Portweins, räkelte sich in seinem Sessel zurecht und öffnete den Kalender.
Am 01. Januar stand erwartungsgemäß nicht viel drin. Er war von seiner Schwester zum Mittagessen eingeladen gewesen und erinnerte sich, dass Mechthild eine gefüllte Kalbsbrust serviert hatte. Der Tag war harmonisch verlaufen und am Abend war er gesättigt und irgendwie entspannt in sein Refugium zurück gekehrt. Auch am 02. Januar waren noch nicht allzu viele Termine eingetragen. Seine Kunden weilten noch im Skiurlaub in Aspen oder Kitzbühl. Er war kein Skifahrer, konnte diesem Aufenthalt in der Bergwelt nichts abgewinnen. Wenn er schon Urlaub machte, zog es ihn in den Süden. An Sonnenüberflutete Strände mit weißem Sand und Palmen. Und er machte meist im Herbst Urlaub. Auch so ein Vorteil des Singledaseins. Man brauchte sich nach nichts und niemanden richten.
Am 03. Januar waren zwei Termine eingetragen. Vormittags war dieser eine Schauspieler bei ihm gewesen. Er hatte Kapital für seinen neuen Film gesucht. Anton war skeptisch. Er hatte sich die Angelegenheit angehört, hatte sich ein Expose mit den wichtigsten Zahlen geben lassen und hatte es später, als er alleine war durchgelesen. Das Projekt schien sauber durchfinanziert zu sein. Er tätigte ein paar Anrufe und vereinbarte für den nächsten Tag einen Termin mit einem Spezialisten. Am Nachmittag war Baron v. Wessling aufgetaucht. Der alte Herr hatte wieder einmal einen Spleen. Diesmal wollte er in Schiffe investieren. Anton brauchte lange, um es ihm auszureden.
Und so ging es durch die ersten Monate. Fast ausschließlich Geschäftstermine standen in dem Kalender. Natürlich auch ein paar Geburtstage und einige wenige persönliche Termine. Sein Zahnarzttermin zum Beispiel. Oder Termin für die Inspektion seines Autos. Alles in allem drehte sich dein Leben nahezu ausschließlich um seinen Beruf. Melanies Geburtstag. Er hatte sie angerufen und sie hatten sich zum Mittagessen getroffen. Unpersönlich, ohne Tiefgang, war das Mittagessen verlaufen. Melanie hatte nur wenig von sich und ihrem Leben erzählt. Immerhin rückte sie damit heraus, dass sie einen neuen Freund hatte. Sie zeigte ihm sogar ein Bild. Sah sympathisch aus, der junge Mann. Antons Geschenk nahm sie ohne große Regung entgegen und entschuldigte sich schon bald nach dem Essen, da sie mit ihrem Freund verabredet war. Anton war leicht geknickt in seine Bank zurück marschiert.
Ein neuer Monat, ein neuer Eintrag. Tagung der Arbeitsgemeinschaft privater Banken. In Frankfurt. Wo sonst? Er war mit dem Zug hin gefahren. Das Hotel, ein seelenloser Kasten, hatte ihn verschluckt, so wie viele andere Geschäftreisende auch. Er war Teil einer temporären Gemeinschaft geworden, die sich in einem Sitzungssaal traf, an Workshops teilnahm, Vorträge hörte und in den Pausen zu den sogenannten informellen Flurgesprächen traf. Viel Erinnerungen hatte er nicht daran. Der nächste Tag zeigte den selben Eintrag. Doch was war das? Mit dickem Filsschreiber eine Mobiltelefonnummer, davor die Initialen A. T., das ganze versehen mit drei dicken Ausrufezeichen und mehrfach unterstrichen. Nur einen Moment musst er nachdenken, dann glitt ein Lächeln über seine Züge.
A. T. stand für Amelie Thatcher. Vor seinem geistigen Auge entstand ein Bild. Eine Frau, Anfang vierzig, klein und zierlich, mit dunkeln, kurz geschnittenen, lockigen Haaren. Eingehüllt in ein dunkles Businesskostüm, eine weiße Bluse mit einer Brosche. Ein sanftes Gesicht, eine leise Stimme, der man nicht anhörte, dass ihre Besatzerin aus dem englischsprachigen Raum kommen musste. Zurückhaltend, fast schon schüchtern, war sie an einem der Stehtische gestanden und hatte fast unmerklich genickt, als Anton gefragt hatte, ob er sich zu ihr stellen dürfe. Ein Gespräch war nur zögerlich in Gang gekommen. Am ersten Tag war das gewesen. Immerhin hatte er erfahren, dass sie für ein großes Investmenthaus arbeitete. Natürlich sprachen sie über ihren Beruf und die Krise. Was sie sagte, hatte Hand und Fuß, aber sie stellte ihr Licht unter den Scheffel. Sie hörte mehr zu, als dass sie sprach. Als die Pause vorbei war, trennten sich ihre Wege.