Langsam war Ruhe eingekehrt. Viele der Kolleginnen und Kollegen hatten sich den Nachmittag freigenommen. Hätte ich auch tun können, aber einer musste ja die Stellung halten, einfach nur für den Fall, dass noch eine Firma anrufen würde und ein wichtiges Problem hatte. Und dieser Jemand, dieser Eine, war an diesem Freitag eben ich. Ok, viel war sowieso nicht los. Brückentag, da hatten die allermeisten sowieso frei genommen. Ich sinnierte darüber, ob man wirklich glücklich mit dem freien Tag sein konnte. Seit Tagen hing das berühmte Tiefdruckgebiet über uns, seit Tagen war die Sonne nur eine Erinnerung an bessere Zeiten, seit Tagen war das einige Geräusch, das man zuverlässig zu jeder Stunde hörte, der unaufhörlich niedergehende Regen.
Das Telefon klingelt. Amtsleitung! Ohne mich großartig zu bewegen, hangelte ich nach dem Hörer und drückte gleichzeitig die Entertaste auf der Tastatur. Die Eingabemaske der Störungsannahme erschien. Ich meldete mich mit vorgetäuschtem Elan in er Stimme. Doch sofort wurde ich unterbrochen. Spar dir den Sermon, ich bin es. Natürlich erkannte ich die Stimme. Wolfgang, mein Kollege und so was wie ein Freund war dran. Was gibs? Fragte ich, ließ Tastatur, Tastatur sein und griff stattdessen zur Kaffeetasse.
Nichts! Bin bei Hassman fertig. Hast du noch was? Schnell warf ich einen Blick in die Auftragsliste. Nichts, was nicht auch noch am Montag Zeit hätte. Gut, dann komm ich rein. Bist du dann noch da? Ein Blick auf die Uhr, noch war mehr es noch mehr als eine Stunde, bis ich wirklich Schluss machen konnte. Sicher! Dann bis gleich! Und weg war die Verbindung.
Ich drehte meine Sessel in Richtung Fenster und betrachtete trübsinnig den dicht fallenden Regen. Sauwetter, dachte ich. Elendes Sauwetter! Und so was nennt sich Frühling! Meine Gedanken schweiften ab, sahen mich an lauen Sommerabenden im Biergarten sitzen, sahen mich mit Freunden auf der Terrasse grillen und den Abend genießen. Freitag, der Start ins Wochenende und keine Aussicht auf frühlingshafte Unternehmungen.
Es war wirklich ruhig heute, denn die sonst üblichen Telefongespräche, die Panikanrufe unserer Kunden, dass Server abgestürzt waren, dass Software nicht lief, dass Produktionsstraßen still standen, oder der Zugriff auf Dateien verweigert wurde, all das fiel heute weitestgehend aus. Und so dachte ich über mein Leben und meinen Werdegang nach, der mich an diesen Platz gespült hatte.
Kindheit in einem kleinen Dorf, Umzug der Eltern in die Kreisstadt, Abitur, Studium, erst in der Technologieregion, später dann im Ausland. Abschluss und Diplom, Wanderjahre hier und dort und schließlich die Rückkehr in die Stadt meiner Jugend. Erst der Versuch sich selbstständig zu machen, was gründlich misslang, dann die Anstellung hier. Erst als Serviceingenieur, so wie Wolfgang, dann als Teamleiter, schließlich als Service-Manager.
Soweit, so gut. Auch privat lief alles bestens. Die eine oder andere Liaison mit netten Frauen, eine Ehe, dich nicht lange hielt, schließlich das Leben à la carte, dem soviel Freiheit nachgesagt wurde, das aber bei weitem weniger spannend und aufregend war, als man sich das gemeinhin so vorstellt. Sicher, hin und wieder, hatte ich die eine oder andere Frau davon überzeugen können für kurze Zeit Tisch und Bett mit mir zu teilen, aber in den meisten Fällen, war der Reiz des Neuen der Routine gewichen und mehr als einmal war ich es gewesen, der die Beziehung beendete, bevor sie richtig begann.
Schon war ich ruhiger geworden, hatte mich nicht mehr bemüht, die aktive Rolle des Verführers zu spielen, sondern war dazu übergegangen, Begegnungen als das zu nehmen, was sie waren, nämlich flüchtige Momente des Zusammentreffens, die sich entweder entwickeln konnten, oder eben auch nicht.
Und so war ich mit Patrizia zusammen getroffen. Zufällig, fast klischeehaft im Supermarkt, als wir hintereinander an der Kasse standen. Sie sprach mich an und fragte mich, ob ich ihr ein Kirschwasser aus der Gitterbox geben könnte. Selbstverständlich tat ich es, aber schon als ich danach griff wunderte ich mich darüber, dass diese Frau einen Flachmann wollte. Sie sah so gar nicht danach aus. Auch ihre Einkäufe, die sie aufs Band legte, ließen nicht den Schluss zu, dass sie so einem Tröster verfallen war, ihn gar benötigte. Joghurt, Quark, Gemüse, Obst, alles Bio. Ich dachte nicht weiter darüber nach.
Eine halbe Stunde später hatte ich ein Dejavue. Wieder eine Kasse, diesmal im Drogeriemarkt, wieder eine Schlange und wieder eine weibliche Stimme, die mich bat, ihr etwas aus der Gitterbox zu geben. Ich tat es erneut, drehte mich um und hätte das Fläschchen mit dem Heilpflanzenöl beinahe fallen lassen. Die selbe Dame. Auch sie war verblüfft, dann lächelte sie. So ein Zufall! Ich nickte. Ja, ein unglaublicher Zufall! Aber ein netter Zufall. Immer gerne zu Diensten. Jetzt wurde aus dem Lächeln ein bezauberndes Lachen. Mal sehen, vielleicht fällt mir noch etwas ein.
Doch das schien nicht der Fall zu sein, denn das kurze Gespräch war beendet, ich musste bezahlen und ging mit meinen Einkäufen zum Wagen. Kaum hatte ich die wenigen Artikel im Kofferraum verstaut, klingelte mein Handy. Alex, ein guter Bekannter rief mich an und fragte, ob ich nicht Lust habe, am Abend vorbei zu kommen. Er und seine Frau wollten grillen. Ich überlegte nicht lange und sagte zu. Ein Abend mit Alex und Anne versprach lustig und gemütlich zu werden. Das Handy verschwand wieder in der Tasche und ich wollte einsteigen. Und wer stand da neben meinem Wagen und belud sein eigenes Fahrzeug? Genau, die Dame von der Kasse. Wieder lächelte sie, sagte aber nichts.
Sie stieg ein und rangierte ihr Auto aus der Parklücke. Plötzlich öffnete sie das Fenster und sie sah mich an. Ich fahre jetzt zum Bäcker! Wieder dieses Lächeln und weg war sie. Nein, zum Bäcker musste ich leider nicht. Ich hätte auch nicht gewusst zu welchem, denn Bäckereifilialen gab es mehr als genug in der Stadt. Schade eigentlich, man hätte dem Zufall etwas auf die Sprünge helfen können.
Zügig fuhr ich in Richtung nach Hause. Aber ich konnte meine Gedanken nicht von der Unbekannten lösen. Eigentlich war sie nichts Besonderes gewesen. Nein, nicht falsch verstehen, ich meine damit nur, dass sie nicht aufgebrezelt war, nicht extrem kokett, sondern einfach nur ganz natürlich. Etwa in meinem Alter, die Vierzig also schon überschritten, nicht übermäßig geschminkt, eine schöne Figur und schulterlange, rötlich glänzende Haare in denen eine Sonnebrille gesteckt hatte. Ein schöner Anblick, mehr aber auch nicht.
Die Ampel vor mir wurde rot. Ärgerlich, denn jetzt stand eine lange Wartezeit an. Ich kannte diese Ampel zu Genüge. Wieder meldete sich mein Handy. Darf ich dich um einen Gefallen bitten? Alex war erneut dran. Könntest du noch Grillkohle mitbringen? Ich weiß nicht, ob unser Vorrat reicht und ich kann nicht weg. Klar doch! Blinker links und auf einem kleinen Umweg wieder zurück, diesmal zum Baumarkt.
Das ist aber ein seltsamer Bäcker! Lachte ich, als ich die Dame zu meinem Erstaunen erneut traf, diesmal im Gartencenter des Baumarktes. Schlagfertig antwortete sie. Zum Bäcker sind sie mir ja nicht gefolgt. Aber ich dachte daran, dass Männer am Samstag meist in den Baumarkt fahren. Immerhin eine Chance! Ich nicht! Aber vielleicht haben Sie ja ein Exemplar dieser Spezies zu Hause! Drauf bekam ich keine Antwort.
Gemeinsam gingen wir durch die Kassenzone und gemeinsam betraten wir den Parkplatz. Darf ich Sie zu einem Kaffee einladen? Ich sah, wie es in ihrem Gesicht arbeitete. Leider nein. Das heißt, Sie dürfen schon, aber ich kann nicht annehmen. Zumindest heute nicht. Aber wer weiß, sie kennen ja jetzt meine samstägliche Einkaufsroute und vielleicht führt uns der Zufall wieder einmal zusammen. Und wenn ich dann Zeit habe, dann wirklich gerne! Diese artig vorgetragene Ablehnung, ließ mich den Korb leichter ertragen. Ich werde mir Mühe geben, dem Zufall auf die Sprünge zu helfen. Sie nickte mir zu, schenkte mir ein Lächeln und verschwand mit ihrer Pflanze.
Der Rest des Samstags verging mit all den kleinen und größeren Verpflichtungen, die man als Singlemann eben so hat. Wäsche waschen, bügeln und putzen. Das Übliche eben. Und wie gewohnt stellte ich mich pünktlich um 15.00 Uhr bei Johannes ein. Entweder schauten wir uns ein bestimmtes Spiel an, oder aber wir ließen uns von der Konferenz über alle Spiele unterrichten. Der einzige Unterschied, heute wollte ich kein Bier dazu. Schließlich war ich ja am Abend noch eingeladen.
Wieder zu Hause stellte ich mich unter die Dusche und zog mich anschließend sommerlich leicht an. Es war ja warm draußen und auch der Abend versprach noch angenehme Temperaturen. Schließlich machte ich mich auf den Weg zu Alex und Anne. Fast pünktlich traf ich ein, traf aber nur Alex an, der gerade dabei war, den Grill aus der Garage zu holen.
Wenig später stand der Grill auf seinem Platz, die Kohle war aufgelegt und glühte vor sich hin. Alex und ich standen daneben und sahen dem Grill bei seiner Arbeit zu. Mein Blick ging zum Haus, ich vermisste Anne. Doch Alex gab mir Bescheid. Anne ist noch schnell mit ihrer Freundin zu Rewe gefahren, sie dachte plötzlich, dass die Grillsaucen nicht reichen würden. Ich nickte verständnisvoll. Kann ich auch noch was tun? Du könntest mal das Brot schneiden. Es liegt schon auf der Anrichte in der Küche. Ich nickte und betrat das Haus.
Schon während ich das Brot schnitt, hörte ich weibliche Stimmen. Du bist ja schon soweit, sagte Anne. Ist Frank schon da? Ich hörte die Bestätigung von Alex nicht, denn ich hatte mich, mit dem Brotkorb in der Hand, umgedreht und dabei zufällig einen Blick aus dem Fenster getan. Und plötzlich lag der Brotkorb samt Inhalt auf dem Boden, ich hatte ihn einfach fallen lassen. Annes Kollegin war keine andere, als die Dame des Vormittags, meine Zufallsbekanntschaft.