Und dann? Was ist dann geschehen?
Es dauerte eine ganze Weile, bis diese Worte zu mir durchdrangen und in meinem Bewusstsein eine Reaktion hervor riefen. So ganz langsam kehrte ich aus der Vergangenheit wieder in die Gegenwart zurück, nahm diese Gegenwart mit meinen Sinnen wahr.
Durch das einen spaltweit geöffnete Fenster hörte ich Stimmen, die in das Halbdunkel des Raumes eindrangen. Stimmen, im einzelnen nicht zu unterscheiden, und doch irgendwie jeweils einen eigenen Charakter habend. Hier die Stimmen zweier Kinder, dort das Lachen einer Frau, das den tiefen Bass eines Mannes überdeckte. Ein Klangteppich voller Emotionen, so wie man ihn vielleicht an einem Sonnentag im Freibad zu hören bekommt.
Im Raum selbst war es wieder still. Das Ticken einer Uhr klang laut, metallisch und hart und gehörte doch zu diesem Raum, wie die schummrige Dämmerung, die mich nur schemenhaft mein Gegenüber erkennen ließ. Kaum zwei Meter von mir entfernt, den Rücken zum mit einem Rollladen fast vollständig verschlossenen Fenster saß sie in einem grünen, großen Ohrensessel.
Im Pendant dazu saß ich, ihr zugewandt. Als ich zum ersten Mal vor ein paar Tagen in diesem Sessel versunken war, kam mir in den Sinn wie passend die übliche Bezeichnung dafür ist. Sorgenbrecher nennen die Menschen so einen Sessel, der ihre Körperformen aufnimmt und ihnen zugleich Halt und Rückgrat gibt. Einen Sorgenbrecher hatte ich weiß Gott nötig. Und Hilfe, mein Leben endlich wieder in den Griff zu bekommen!
Diese Hilfe sollte mir Denise Roland geben. Oh Verzeihung, Frau Dipl. Psychologin Denise Roland. Seit fast einer Woche saß ich jetzt jeden Nachmittag für eine, manchmal zwei Stunden bei ihr in diesem mit allerlei Krimskrams zugestelltem Büro und erzählte ihr meine Lebensgeschichte. Heute waren wir am kritischen Punkt angelangt.
Und dann, was geschah, als Sie in den Zug eingestiegen sind?
Wieder drangen ihre Worte an mein Ohr, aber nicht in mein Gehirn vor. Noch waren meine Gedanken im Hotel Zur Krone in einer kleinen Stadt im Allgäu. Und sie waren um Jahre zurück. Denn damals, vor rund 16 Jahren hatte meine Lebensplanung einen Knick bekommen, ohne dass ich es zu diesem Zeitpunkt schon bemerkt hätte.
Aber ich erzähle am besten der Reihe nach.
Eine meiner frühesten Kindheitserinnerungen sieht mich im Garten meiner Großmutter sitzen und in der Sandkiste spielen. Im gleißenden Sonnenlicht, aber im Schatten des Birnbaumes, sehe ich meine Mutter, wie sie Bettbezüge näht. Zumindest glaube ich das. Heute weiß ich, dass sie zum damaligen Zeitpunkt schwanger gewesen sein muss, als vierjähriger macht man sich darüber noch keine Gedanken. Erinnerungsfetzen von Kindergarten und Schule gehen durch meinen Kopf. Die Rebellionen der Pubertät, der Versuch auszubrechen, aus dem kleinbürgerlichen Milieu des Elternhauses. Meine Eltern waren einfache Leute. Mein Vater Schreiner in einer Möbelfabrik und meine Mutter Verkäuferin in einem Kaufhaus.
Trotzdem hat es mir an nichts gemangelt. Auch meine Schwestern haben dieses Leben genossen und einen guten Start erhalten. Mit Beginn meines Studiums habe ich dieses behütete Nest verlassen und mich selbstständig gemacht. Mein erstes Studienjahr hat mich kaum in der Uni gesehen. Viel zu aufregend war die Freiheit, viel zu sehr packte mich die Lebenslust und die vermeintliche Pflicht, ein studentisches Leben zu führen.
Da gab es die Kneipen, die Kumpels und das Leben. Und da gab es dir Frauen! Alle Türen standen einem offen, auch die Schlafzimmertüren der Mädchen. Und das war ich aus meiner kleinbürgerlichen Umgebung so gar nicht gewohnt. Immer dem Kick, dem Glück hinterherlaufend, vielleicht doch einmal irgendwo Brüste aufblitzen zu sehen, oder einen Blick unter einen Rock zu erhaschen, lag ich in den Sommern vor meinem Studium tagelang im Schwimmbad, oder schlich um die Badeseen der Umgebung, meist ohne Erfolg.
Ich dachte, dass ich mich bei meinen Streifzügen geschickt angestellt hätte, doch das war nicht der Fall. Annelie, eine gute, wenn auch schon etwas ältere Freundin meiner Schwester Tanja, machte dem Spuk ein Ende. Die Mädchen hatten im Garten gesessen und sich unterhalten. Ich, mal wieder ohne Lust, etwas Vernünftiges zu tun, schlich hierhin und dorthin und tat dies und das. Plötzlich rief mich meine Schwester. Gehst du nachher zum Training? Klar! Annelie bittet dich, mit ihr zu fahren und ihr zu helfen, eine kleine Kommode aus dem Keller nach oben zu tragen. Als sie mein abwesendes Gesicht sah, fügte sie noch hin zu. Das liegt doch auf deinem Weg zum Sportplatz! Klar lag es das, aber Lust hatte ich keine.
Und so saß ich dann auch wenig später schweigend neben Annelie in ihrem kleinen Renault. An ihrer Wohnung angekommen, wies sie mir den Weg in den Keller und ließ mich das blöde, sperrige Ding nach oben tragen. Ich rückte es in ihrem Wohnzimmer an die angegebene Stelle. Annelie sah mich an und holte mir ein Glas Wasser aus der Küche. Mit dem Glas brachte sie ein Tuch mit um die Kommode sauber zu wischen. Mein Blick folgte ihr.
Sah gar nicht so schlecht aus, diese Maus. Der Stoff ihres Rockes spannte sich über einem festen, kleinen Hintern und durch die Wischbewegungen, das sah ich deutlich, kam ihr Busen ins wippen. Dies und meine Gedanken dazu, ließen an meiner Hose eine Beule entstehen. Ob Annelie das mit Absicht tat? Jetzt drehte sie sich um und warf einen desinteressierten Blick auf mich. Noch ein Wasser? Ich nickte stumm. Sie nahm mir das Glas aus der Hand und ging aufreizend langsam in die Küche. Mein Blick folgte ihr. Als sie wieder kam, war ein Grinsen in ihrem Gesicht, das ich nicht zu deuten wusste. Ganz nah trat sie an mich heran und reichte mir das Glas. Für einen Moment sah sie mir in die Augen und drehte sich dann um.
Jetzt stand sie an die Kommode gelehnt und hatte die Arme vor der Brust verschränkt. Und, wie erfolgreich warst du bisher? Sie musst die Fragezeichen in meinen Augen sehen! Was meinst du? Wieder grinste sie. Na, wie viele Mädchen hast du schon flach gelegt? Das Blut schoss mir in den Kopf! Keines! Stotterte ich hilflos und entgegen meinen sonstigen Großsprechereien unter den Kumpels. Na so was, meinte sie spöttisch und kam mir wieder näher. Immer näher, ganz nah. Ich spürte ihren Atem. Und dann spürte ich ihre Hand auf meiner Beule. Dann wird es aber Zeit, flüsterte sie lächelnd und zog mich in ihr Schlafzimmer.
Um es vorweg zunehmen, es wurde ein Desaster. Annelie zeigte mir alles, was ich sehen wollte und sie zeigte mir, wie Frauen mit Männern umgehen können. Was sie aber nicht konnte, war meine Ungeduld bezähmen. Annelie kann nichts davon gehabt haben, denn das Ganze dauerte keine viertel Stunde. Und das lag an mir! Ich war zu ungestüm, zu ungeduldig, zu unwissend. Und ich war ungehobelt. Kaum war es geschehen, floh ich von der Stätte meiner vermeintlichen Niederlage. Und bis auf den heutigen Tag, habe ich es vermieden Annelie wieder zu begegnen.
Während des Studiums wurde das besser. Glaubte ich zumindest. Learning by doing, hieß die Maxime und ich bemühte mich um die beste Ausbildung. Eine Freundin hatte ich nicht, brauchte ich auch nicht. Was ich brauchte waren Frauen, die mit mir Sex hatten und die gab es erstaunlich oft. Im ersten Semester vögelte ich mich so durch alle möglichen Betten, hatte meinen Spaß und fand das Leben großartig. Aber irgendwann muss man mal ernsthaft mit dem studieren beginnen und außerdem hatte ich inzwischen einen Ruf weg, der die Mädchen vorsichtiger werden ließ. Selbst mein Spitzname, zeugte von meiner Leidenschaft. Meine Eltern hatten mich Roger genannt und daraus wurde schnell Roger Rabbit..
Dann war das Studium vorbei und ich bekam meine erste Stelle. Wieder hieß es umziehen und wieder hieß es, sich neuen Begebenheiten anpassen. Natürlich musste ich noch viel lerne, aber das machte mir nun zum ersten Mal richtig Spaß. Nur was mein Privatleben anging, lernte ich nicht dazu. Wenn ich eine Frau sah, die mir gefiel, baggerte ich sie an. Bekam ich sie in mein Bett, war es gut, wenn nicht, versuchte ich es bei der Nächsten.
Dann schickte mich meine Firma zu einer Tagung ins Allgäu. Spannend war anders und die Teilnehmer der Tagung waren durchweg langweilige, ältere Herren, die nichts brauchten, als ihre Selbstbeweihräucherung. Deshalb floh ich nach dem gemeinsamen Abendessen in die Bar. Ich wollte mir die nötige Bettschwere besorgen. Oder vielleicht ein kleines Abenteuer erleben? Ein kurzer Rundblick zeigt mir, dass dies nicht möglich sein würde. Und zwar mangels geeigneter Frauen. Also blieb der Alkohol.
Ich sah zufällig zur Tür, als sie herein kam. Der dicke Babybauch war nicht zu übersehen, auch wenn das Kleid ihn gut kaschierte. Das Gesicht dieser Frau war das Gesicht eines Engels. Mein Blick folgte ihr. Natürlich, ein mögliches Opfer für die Nacht war sie nicht. Da hatte schon ein Anderer die Hand drauf. Und nicht nur die Hand. Aber sie gefiel mir trotzdem.
Sie setzte sich mit etwas Mühe ziemlich in meine Nähe und bestellt ein Wasser. Klar, in ihrem Zustand!
Als das Wasser kam, prostete ich ihr zu. Ganz schön blöd, wenn man in einer Bar nur Wasser trinken kann! Sie musterte mich. Ganz schön blöd, wenn man Alkohol braucht! War ihre schnelle Antwort. Touche! Sie gestatten? Und schon rückte ich einen Barhocker weiter in ihre Richtung.
Trotz dieses etwas missglückten Beginns, wurde es eine schöne und interessante Unterhaltung. Ich ertappte mich dabei, dass zum ersten Mal bei so einer Unterhaltung der Mensch und seine Ansichten im Mittelpunkt standen und nicht der Versuch, die Frau ins Bett zu bekommen. Sie erzählte wenig von sich, aber immerhin erfuhr ich, dass sie Sonja hieß. Und ich erfuhr, dass ihr Freund ebenfalls hier sei, aber noch mit einem Kumpel unterwegs.
Als wir uns später trennten, nahm ich die Erinnerung an einen schönen Abend und eine interessante Frau mit ins Bett. Am nächsten Morgen ging unserer Tagung weiter, aber so sehr ich mich auch bemühte, ich sah Sonja nicht wieder. Schade eigentlich!