Nein, leiden konnte ich diesen Mann noch nie. Wobei mir der Mensch an und für sich, herzlich egal war. Es war sein sogenanntes Schaffenswerk, dass mir gewaltig auf den Keks ging. Man kann mir Intoleranz vorwerfen, vielleicht auch Überheblichkeit, aber die Lieder des Herrn Howard Carpendale, sind mir ein Gräuel. Und dennoch ging mir eines dieser Lieder seit ewiger Zeit im Kopf herum, nistete sich in meine Gedanken ein und ich ertappte mich dabei, dass ich es hin und wieder vor mich her summte.
Tür an Tür mit Alice
Und noch einen Mann gab es, der meine Gedanken beschäftigte. Ebenfalls nicht freundschaftlich, ebenfalls mit deutlicher Abneigung, wobei mir hier der Beruf völlig egal war und mir mehr sein Vorhandensein an sich schlaflose Nächte bereitete. Seinen Namen wusste ich nicht, wollte ich nicht wissen, aber sein fallweises Auftauchen, machte mir zu schaffen.
Aber beginnen wir ganz von vorne.
Mein Name ist Rüdiger Schmal. Wenn es nach dem Willen meiner Eltern gegangen wäre, vielleicht auch nach meinem Willen, hätte ich Medizin studiert. Alleine, die Noten reichten nicht dafür und auch der Eignungstest zeigte, dass Medizin nicht mein Beruf sein konnte. Dennoch hatte ich eine hohe Affinität zu diesem Fach, was nicht verwundert, wenn beide Eltern Ärzte sind. Erfolgreiche Ärzte. In der Studienberatung stellte ich schnell fest, dass Informatik eher mein Fach sein konnte und als ich dann mit dem Studium begann merkte ich, dass diese Entscheidung richtig war.
Nach dem Studium führte mich mein Berufsleben zu einigen Softwarefirmen, schließlich zu einem Internetprovider. Ich begann mich, der Not folgend, nicht der eigenen Tugend, in die Netzwerkadministration einzuarbeiten, fand Gefallen daran und stieg die Karriereleiter hoch. Irgendwann wurde ich Leiter Netzwerke. So interessant der Job auch war, er brachte auch Nachteile mit sich. Oft musste ich Nachts raus, oder an den Wochenende, wenn es Störungen gab. Nach zwei Jahren merkte ich, dass ich weiter wandern musste.
Per Zufall lernte ich die Fa. Medicomp Ltd. kennen. Die suchten zu der Zeit einen Fachberater. Ihr Klientel war die Ärzteschaft, die sie mit entsprechenden Anwendungen versorgte. Nun, der Vertrag wurde geschlossen und auch dort führte der Weg beständig nach oben. Plötzlich war ich der verantwortliche Repräsentant für den deutschsprachigen Raum. Ich hatte Entwickler, Verkäufer, Administratoren unter mir. Es war ein klasse Job.
Privat hatte ich nicht soviel Glück. Meine langjährige Beziehung mit Alexandra zerbrach, weil wir uns entfremdeten und jeder in seiner eigenen Welt lebte. Die jeweiligen Nachfolgerinnen, Kathrin, Manuela, Lizzy und wie sie alle hießen, kreuzten nur kurz meinen Weg, liefen ein kleines Stück mit mir und verließen dann den gemeinsamen Weg. Fast führte ich ein Leben a la Card, was auf der einen Seite interessant, auf der anderen Seite unbefriedigend war. Ich hätte das gerne geändert. Aber wie? Die Richtige kam einfach nicht vorbei!
Mein privates Leben hatte ich mir nach meinem Gusto eingerichtet. Etwas außerhalb der Stadt, hatte ich mir eine Wohnung in einem kleinen Mehrfamilienhaus gekauft. Insgesamt zehn Parteien wohnten hier. Ich hatte eine der beiden Dachgeschosswohnungen. Der Vorteil war die große Dachterrasse, die ich mir zwar mit der zweiten Wohnung teilte, die ich aber faktisch alleine hatte, weil neben an niemand wohnte. Und wenn doch, es wäre ein Sichtschutz da gewesen. An manchen Stellen zwar etwas löchrig, aber nicht weiter störend.
In der Nachbarstadt wurde etwas Neues ausprobiert. Ein Gesundheitszentrum. Ärzte unterschiedlicher Fachrichtungen, betrieben gemeinsam eine Großpraxis. Gemeinsame Anmeldung, ein offenes Konzept mit kurzen Wegen. Fast schon eine kleine Klinik, aber sehr profitabel. Alles war vorhanden. Angefangen bei der Infrastruktur, über das modernste Equipment, bis hin zu den peripheren Bereichen, wie Physiotherapie und Apotheke. Keine Frage, dass ich dieses Zentrum als Kunde haben wollte. Also bemühte ich mich selbst darum.
Als ich das erste Mal dort zu einem Termin auftauchte, sah ich sie. Ja, genau sie. Was für eine Frau. Irgendwo zwischen Dreißig und Vierzig, schlank und groß gewachsen, schulterlange, blonde Haare und geschmeidige, sparsame Bewegungen. Der weiße Arztkittel, der offen stand. In einer Tasche ein Stethoskop, in der andren irgendwelche kleinen Taschenbücher, Kugelschreiber von verschiedenen Farben steckte überall, aus der Brusttasche schaute ein EKG-Lineal hervor. Darunter die übliche, weiße Medizinerhose und die unvermeidlichen Clogs. Allerdings bunt und mit Blümchen versehen. Dazu trug sie ein lustiges Polo-Shirt, an dem ein Namenschild befestigt war. Dr. Lena stand drauf. Dazu waren lustige Verzierungen angebracht. Etwas nach vorne gebeugt, stand sie hinter einem Tresen und begutachtete eine Akte. Ich konnte kaum den Blick von ihr wenden, sosehr faszinierte sie mich.
Dann wurde ich in ein Büro geführt. Nach einem ausführlichen Gespräch, bei dem ich unsere Software vorstellte, erreichte ich es immerhin, dass ich eine Einladung zur Gesellschafterversammlung bekam, um dort eine Präsentation vor allen Ärzten zu halten. Bei diesem Termin sah ich sie wieder und wieder faszinierte sie mich. Ich bekam den Auftrag und in der Folge hatte ich öfter im Zentrum zu tun. Nicht immer sah ich sie. Aber wenn, schlug mein Herz höher. Mehr als ein paar unverbindliche Worte, wechselten wir nie, doch ich bekam sie nie aus dem Kopf.
Als ich eines Abends von einem Auswärtstermin nach Hause kam, fand ich zwei Briefe vor. Im ersten teilte mir der Verwalter mit, dass die zweite Dachgeschosswohnung verkauft sei, der andere beorderte mich nach London zu meinem Arbeitgeber. Dort hatte man eine neue Software entwickelt und die sollte vorgestellt werden. Eine Woche würde dafür drauf gehen. Na prima! London ist zwar schön, aber eine Woche nur im Glaspalast der Zentrale? Darauf hatte ich nun wirklich keine Lust. Aber der Termin war Pflicht.
Wenn ich in den nächsten Tagen nach Hause kam, merkte ich schon, dass die Wohnung verkauft war. Überall war Staub, denn die Handerker renovierten kräftig. Manchmal hörte ich auch am Abend noch die Bohrmaschinen. Doch meine neuen Nachbarn bekam ich nicht zu Gesicht. Genau an dem Tag, als ich mich morgens zum Flugplatz fahren ließ, enterte eine Putzkolonne das Haus. Der Einzug der neuen Eigentümer schien kurz bevor zu stehen.
London war wie erwartete. Endlose Tage in Sitzungsräumen, denn schließlich blieb es nicht bei der Präsentation, sondern es gab noch Meetings über Geschäftsstrategien und natürlich auch die Inquisition, das Gespräch mit der Geschäftsleitung bezüglich der eigenen Zahlen. Von London sah ich nicht viel.
Spät am Freitagabend kam ich nach Hause. Zu müde, um noch irgendetwas zu tun, setzte ich mich vor den Fernseher und ließ mich einlullen. Das Namensschild der Nachbarn hatte ich gesehen. Dr. Fritz. Als ich später vor dem schlafen gehen eine letzte Zigarette auf der Terrasse rauchte, drang leise Musik zu mir herüber. Bach, oder so etwas in der Art. Die Nachbarn waren eingezogen.
Es dauerte noch einige Tage, bis ich jemanden begegnete. Mein Erstaunen war groß, als ich in der neuen Nachbarin Dr. Lena wieder erkannte. Wir wechselten ein paar Worte. Eine Begrüßung, das Wiedererkennen ihrerseits, ein paar belanglose Worte, dann trennten sich unsere Wege. Immer wieder begegneten wir uns und nickten uns freundlich zu. Ich kam zu der Erkenntnis, dass sie einerseits alleine lebte, anderseits aber auch keinen Kontakt suchte. Das wiederum fand ich schade, denn sie gefiel mir immer besser.
Und dann tauchte er irgendwann einmal auf. Von Anfang an, konnte ich ihn nicht leiden. Ein junger Schnösel, der immer mit einem schweren Motorrad ankam. Direkt vor dem Haus, unter einer Laterne, stieg er ab, bockte die Maschine auf und schloss sie ab. Dann ein Griff an die Lederjacke, der Reißverschluss öffnete sich. Das weiße Army T-Shirt kam zum Vorschein. Um den Hals eine Goldkette. Man nennt diese Art von Ketten glaube ich Venezianer Ketten. Dann zog er den Helm ab und beförderte mit einem Griff in die Jackentasche eine große Sonnenbrille hervor. Die wurde ins Haar gesteckt, dass er zu einem Pferdeschwanz gebunden trug. Ich schätzte den Typ so auf Ende Zwanzig.
Mit dem Helm unter dem Arm ging er auf das Haus zu und klingelte. Sofort schlug der melodische Drei-Ton-Gong meiner Nachbarin an. Wie weiland die Westernhelden, stapfte er mit schweren Schritten die Treppen herauf. Die Schnallen seiner Motorradstiefel klirrten. Meist wurde er von meiner schönen Nachbarin mit einer Umarmung und einem freudigen Lächeln empfangen. Dann schloss sich die Tür hinter den beiden.
Manchmal ging er ziemlich schnell wieder, was unschwer zu überhören war, da sein Motorrad einen satten Klang hatte. Manchmal blieb er über Nacht, manchmal ein ganzes Wochenende. Es gab aber auch Zeiten, in denen er wochenlang nicht auftauchte. Der Typ hatte mir nichts getan, benahm sich höflich und weitestgehend zurückhaltend, aber ich konnte ihn nicht leiden. Er war der Glückliche, der Dr. Lena kennen und vermutlich auch lieben durfte. Ich war es nicht.
Und trotzdem ging mir diese Frau nicht aus dem Kopf. Da lebte ich Tür an Tür mit ihr und kam einfach nicht an sie heran. Aber wenn man es genau nahm, unternahm ich noch nicht einmal einen Versuch. Bestehende Verbindungen sind Tabu für mich. Und so lebte ich also wie in dem bewussten Lied neben einer Frau, die zwar nicht Alice hieß, dafür aber den schönen Namen Lena trug.