Der Motor erstarb, als Rafael den Schlüssel herum drehte. Die Stille nach dem infernalischen Lärm, der in nun stundenlang begleitet hatte, tat in den Ohren fast genauso weh. Die gepeinigten Hörnerven würden eine Weile brauchen, um sich zu erholen. Für einen Moment blieb Rafale noch still sitzen. Dann drückte er auf den Knopf, der die Elektronik ausschaltete. Das Aufleuchten der grünen Leuchte hatte ihm angezeigt, dass die Datenübertragung abgeschlossen war.
Mit einem leichten Quietschen, öffnete sich die Kabinentüre und Rafael wuchtete sich mühevoll aus dem Sitz. Alle Knochen spürte er und ein nicht zu unterdrückendes Zittern lief durch seine Arme. Sonst gewohnt, seinen Arbeitstag am Rechner, oder schlimmsten Falls an der Zeichenmaschine zu verbringen, waren diese Tage des Tests eine wahre Herausforderung für seinen keinesfalls unsportlichen Körper.
Jeder Muskel tat ihm weh, als er nun die kleine Eisentreppe aus luftiger Höhe herabstieg und endlich wieder festen Boden unter den Füßen hatte. Die noch in der Luft hängenden Dieselabgase mischten sich mit dem Duft nach Heu und Stroh und überlagerten ihn. Rafael streckte sich . Nicht nur die Knochen taten ihm weh, sondern ihm war auch noch extrem heiß. Das Hemd, die Hose, einfach alles klebte an ihm. Nach fast nichts sehnte er sich mehr, als nach einer gemütlichen Badenwanne, nachdem er sich vorher den Dreck und Schweiß abgespült hatte.
Na, alles klar gegangen heute? Rafael drehte sich um. Der Mann, der vor ihm stand, war annähernd so alt wie er, etwa so groß und breit und hatte die gleichen kurzen Haare. Außerdem trug er das gleiche Logo auf dem Hemdkragen wie Rafael. Der lächelte kurz, als er seinen Freund und Kollegen Marco erkannte. Klar, bis auf en üblichen Quatsch. Nach jeder zweiten Reihe anhalten und nachmessen. Mähwerk und Förderschnecke wieder einrichten und neu justieren. Das Übliche halt. Natürlich hat die Schwadführung mal wieder Probleme gemacht und das DGPS ist auch nicht so ganz in Ordnung. Manuela war nicht begeistert.
Marco nickte. Das hab ich auch schon gehört. Die ist wie eine Furie in die Werkstatt geschossen und hat mitgeteilt, dass wir die ganze Nacht arbeiten sollen. Das Mähwerk muss komplett ausgebaut werden und ob die Drescheinrichtung so bleiben kann, werden wir erst durch deine Daten sehen. Dann mal viel Spaß. Ich geh jetzt erst mal in die Wanne und dann was essen.
Beide nickten sich lächelnd zu. Sie kannten sich schon seit dem Studium, als sie bei einem Praktikum gemeinsam bei dem Landmaschinenbauer untergekommen waren. Jetzt, nachdem sie beide Maschinenbauingenieure waren, waren sie immer noch dabei. Rafael als Entwicklungsingenieur und Marco als Ingenieur im Werkstattteam der Entwicklung. Und so hatte sie nun ihre Arbeit auf den Hof des Bauer Friedrichs geführt. Hier sollte die neueste Entwicklung der Harrer-Werke, ein recht großer und mit neuester Technik ausgestatteter Mähdrescher, einen Echttest absolvieren. Der erste Tag war vorbei und Rafael war froh darüber, Ingenieur und nicht Bauer geworden zu sein. Noch etwas, rief er Marco hinterher, Schaut euch mal die Klimaanlage an. Die tuts nicht! Marco winkte vom Eingang der improvisierten Werkstatt her, ohne sich umzudrehen.
Bauer Friedrich vermietete normalerweise Zimmer und kleine Wohnungen an Feriengäste. Für das Arrangement mit den Harrer-Werken, hatte er für eine Woche darauf verzichtet, um deren Mitarbeitern, Wohnraum zur Verfügung stellen zu können. Nicht für alle natürlich und nicht umsonst. Die Harrer-Werke mussten eine ganze Menge Geld auf den Tisch legen, um Bauer Friedrichs Felder ernten zu dürfen. Rafael hatte die kleine Wohnung im zweiten Stock des Austrags und dahin verschwand er jetzt, ums ich endlich zu erholen.
Mit geschlossenen Augen träumte sich Rafael in eine Welt ohne ratternde und vibrierende Maschinen, in eine Welt ohne Zwänge und Konventionen, aber dafür in eine Welt voll Glück und Zufriedenheit. Nicht dass ihm sein Job keinen Spaß gemacht hätte. Ganz im Gegenteil, aber Rafael wusste, dass der Job nicht alles war. Da musste es noch mehr geben, ein Leben außerhalb des Jobs.
Rafael war nach dem Abitur bei seinen Eltern ausgezogen. Seit dem lebte er in der kleine Wohnung, die ihm allen Komfort bot, den er brauchte. Viel war das nicht. Jetzt, mit etwas mehr als dreißig Jahren fand der die relative Abgeschiedenheit seiner Wohnung sogar als Vorteil. Wenn er zu Hause war, gab es nur die himmlische Ruhe, die ihn umgab und wenn er mal Trubel wollte, dann war er in knapp einer halben Stunde in der Stadtmitte und brauchte dafür noch nicht einmal ein Auto. Was also fehlte ihm?
Rafael wusste es. Eine Frau! Die Frau! Frauen kreuzten ständig seinen Weg und sehr viel Mühe, eine davon in sein Bett zu bringen, hatte er eigentlich nie gehabt. Meist genügter ein amüsanter Abend, bei dem er seinen Charme spielen ließ und war mal eine etwas spröder, zurückhaltender, dann sah er es als eine Herausforderung an. Gelang es ihm, sie zu überzeugen, fühlte er sich als Sieger, wenn nicht, nahm er es auch nicht tragisch.
Doch wenn er ehrlich war, diese Jagdzüge wurden seltener. In letzter Zeit flirtete er oft nur mit Frauen, wenn es dann aber zum Schwur kommen sollte, war er derjenige, der sich zurück zog, der oft sogar eindeutige Angebote ablehnte. Inzwischen war es Rafael klar, was er wollte. Er wollte keine Bettgeschichte, sondern eine Partnerin und deshalb beschloss er spontan, sich nie wieder auf einen One Night Stand einzulassen.
Das Wasser war kalt geworden und Rafael kletterte aus der Wanne. Flüchtig trocknete er sich ab und drapierte sich das Handtuch um die Hüften. Mit ein paar Schritten war er durch das Zimmer und sah aus dem Fenster auf den Hof. Außer einer Katze, die um eine Ecke schlich, sah er niemand. Langsam ging er zurück und zog sich leicht und locker an. In zwanzig Minuten würde es Abendessen geben.
Sie saßen fast alle gemeinsam am Tisch und genossen das reichhaltige Abendessen, das Frau Friedrich ihnen hatte auftischen lassen. Nur die Werkstattmannschaft fehlte. Die nahm jetzt den Mähdrescher auseinander. In etwas weniger als 10 Stunden musste der wieder bereit sein.
Rafael unterhielt sich mit Hans Jörger, dem Elektroniker der Truppe. Natürlich zuerst über Berufliches, dann aber mehr und mehr auch über Privates. Jörger war schon etwas älter, verheiratet und hatte zwei Kinder. Jetzt lehnte er sich zurück und fummelte nach seinen Zigaretten. Als er sah, dass einige noch beim Essen waren, stand er auf. Kommst du mit? Rafael nickte. Hin und wieder rauchte er auch. Jetzt zum Beispiel.
Sie setzten sich im Wirtschaftshof auf eine Bank und rauchten schweigend. Jörger sah auf die Uhr, dann warf er die Kippe auf die Seite. Ich muss dann mal los! Rafael sah ihn fragend an. Arbeiten musste Jörger nicht, das war klar und irgendwohin gehen, das war hier kaum möglich. Der Hof lag etwas außerhalb eines Dorfes, die nächste Stadt war mindestens 30 Kilometer entfernt. Jörger verabschiedete sich und ging in sein Zimmer. Als er wiederkam, stand Rafael auf und ging mit ihm zum Auto. Wo willst du hin? Jörger sah sich um und flüsterte ihm dann konspirativ zu, ich habe eine Verabredung!
Spitzbübisch grinsend, stieg er in sein Auto ein und fuhr los. Rafael sah ihm noch eine Weile nach und machte sich dann auf den Weg zur improvisierten Werkstatt. Über eine Stunde sah er seinen Kollegen zu, redete auch hin und wieder mit ihnen über dieses und jenes Problem, merkte aber bald, dass er nur störte. Deshalb ging er wieder in den Hof zurück und saß erneut rauchend auf der Bank.
Jörger kam nach etwa zwei Stunden wieder. Schon zurück? War wohl doch nicht so toll! Doch Jörger grinste nur und holte mal wieder die Zigaretten aus der Tasche. Doch, alles Bestens! Mehr verriet er nicht. Dann verschwand er im Haus. Als Rafael wenig später aufstand, sah er etwas auf dem Boden glitzern, genau dort, wo Jörger vorhin gestanden hatte. Rafael hob das Etwas auf und hielt eine kleine, schmale Karte in der Hand. Dunkelblau, auf der linken Seite die stilisierte Silhouette einer Frau und mitten drin, mit silbernen Buchstaben, Michelle. Darunter eine Handynummer und eine Web-Adresse. Sieh an, sieh an, der liebe Kollege! Er grinste sich eines und ging in sein Zimmer.
Das Laptop sah ihn verführerisch an. Sollte er, oder sollte er nicht? Er wollte. Schnell war der Rechner am Netz und die Seite aufgerufen. Er redete sich ein, nur neugierig zu sein.
Nun denn. Michelle präsentierte ihre Reize und ihr Programm und er musste zugeben, dass die junge Frau ganz schnuckelig aussah. Und dennoch. Alleine der Gedanke, dass der Kollege vorhin bei ihr war, und wer weiß noch alles sonst, hinderte ihn daran, den nächsten Schritt zu gehen. Er nahm die Karte und steckte sie ein. Auf dem Weg nach unten, warf er sie in den im Treppenhaus stehenden Papierkorb. Dann verließ er den Hof und machte einen Spaziergang. Seine verspannten Muskeln behinderten ihn nicht mehr und nach dem langen sitzen, war er dankbar für Bewegung.
Sein Weg führte ihn über Felder und Wiesen, immer geradeaus. Bis zu dem Heuschober auf der obersten Wiese wollte er gehen und dann umkehren. Ganz in Gedanken versunken, merkte Rafael nicht, dass plötzlich Wind aufkam. Zuerst war er dankbar dafür gewesen, doch jetzt entwickelte er sich zum Sturm. Dann hallte plötzlich ein Donnerschlag auf und fast zeitgleich begann es zu regnen. Den Schober vor sich, gab es nur ein Ziel. Er rannte darauf zu.
Der schwere Duft von Heu umfing ihn. Ein paar Mäuse raschelten, doch dann waren nur noch der prasselnde Regen und die Donnerschläge zu hören. Irgendwie schlich sich ein Traum seiner Kindheit in seinen Kopf. Mit einem Lächeln kletterte er die Heuballen nach oben und ließ sich fallen. So hatte er sich das als Kind vorgestellt. Umgeben von duftendem Heu, in eben jenem Heu liegen und dem Unbill des Wetters draußen trotzen.