Immer wieder, wenn ich in München bin, denke ich an Sina. Natürlich nicht nur dann, aber in München eben am intensivsten. Denn dort hat eigentlich alles angefangen, oder sagen wir so, dort wurde ihrem aber auch meinem Leben eine neue Richtung gegeben. Noch starrte ich aus dem Fenster im siebenten Stock unseres Hotels in die Gegend und konnte mich nicht aufraffen zu gehen.
Sanfte Hände legten sich auf meine Schultern. Schatz, wenn du heute mittag pünktlich sein willst, musst du jetzt gehen. Es sei denn, du hast es dir anders überlegt! Ich schüttelte den Kopf, sah ihn aber nicht an, dass er meine Tränen nicht sehen konnte. Trotzdem bin ich sicher, das merkte, dass ich weinte, denn seine Hände strichen mehrfach beruhigend, aber auch irgendwie linkisch überm einen Rücken. Ich konnte nichts für meine Reaktion. Sina war lange Jahre meine beste Freundin gewesen und ich vermisste sie immer noch so sehr.
Schließlich stand ich wieder alleine am Fenster und fand Gelegenheit, mich zu beruhigen. Irgendwann drehte ich mich um. Mein Mann saß an dem kleinen Tisch und las Zeitung. Ich ging zu ihm hin, küsste ihn sanft und griff nach meiner Handtasche, die auf diesem Tisch stand. Ich geh dann! Er nickte mir zu. Ich wünsche dir trotz allem viel Vergnügen! Die Tür fiel ins Schloss, der Aufzug brachte mich nach unten in die Lobby. Als ich vor das Hotel trat, schloss ich geblendet die Augen, aber mit der Sonnenbrille ging es dann. Ich stieg in ein Taxi. Auch der Fahrer las Zeitung. Wohin Madame? Fragte er mit stark österreichischem Akzent.
In die Wendl-Dietrich-Straße. Der Fahrer nickte und fuhr los. Ich saß im Fond und knetete meine Finger. War das wirklich so eine gute Idee gewesen? Egal, jetzt ging alles seinen Gang und konnte nur schwer rückgängig gemacht werden. Das Taxi suchte sich einen Weg durch das verwirrende Netzwerk der Münchner Straßen und der Fahrer hatte nach einigen vergeblichen Versuchen, ein Gespräch mit mir zu beginnen, aufgegeben. Es dauerte nur wenige Minuten, als mich der Fahrer dann doch fragte, welche Hausnummer, Madame? Ich sah mich kurz um. Wir waren am Anfang der Straße. Lassen sie mich hier aussteigen! Er hielt an, ich reichte ihm das Fahrgeld und stieg aus. Wieder umfing mich gleißende Sonne.
Einen Moment blieb ich stehen, dann atmete ich tief durch. Nichts, aber auch gar nichts war mehr so, wie vor zwanzig Jahren. Ich hätte die Gegend nicht wieder erkannt. Doch als ich schließlich vor dem großen Gebäude stand, meinte ich mich zu erinnern. Hier hatte sich nicht viel getan, zumindest nicht von außen. Mit klopfendem Herzen und unsicherer denn je, ging ich auf den Eingang zu. Die große Flügeltüre schwang auf und zum ersten Mal musste ich lächeln. Dieses Geräusch war noch so wie früher.
Einen Moment musste ich warten, dann kam eine junge Frau auf mich zu und fragte nach meinem Begehr. Ich wollte den Chef sprechen. Die junge Frau lächelte fein. Nun, der ist im Moment nicht da. Sie sah mich durchdringend an. Kann ich Ihnen vielleicht nicht doch helfen? Ich bin seine Frau. Nur kurz überlegte ich. Vielleicht war es ja wirklich besser, so von Frau zu Frau zu reden. Ich nickte und die junge Frau, die meine Nervosität zu spüren schien, führte mich in ein kleines Büro. Ich bekam eine Tasse Kaffee vorgesetzt, in der ich mechanisch eine Ewigkeit rührte, obwohl ich schon lange keinen Zucker und auch keine Sahne mehr in den Kaffee tat.
Als ich dann schließlich doch zu reden anfing, hörte sie mir schweigend und aufmerksam zu. Als ich geendet hatte, stand sie auf und sah aus dem Fenster. Eine etwas ungewöhnliche Bitte. Langsam drehte sie sich mir wieder zu. Wo war das, sagten Sie? Ich meine im zweiten Stock. Sie schüttelte den Kopf. Glaube ich nicht. Wohl eher im Dritten! Ich zuckte mit den Schultern. Kommen Sie! Forderte sie mich auf und ich trottete hinter ihr her. Auch hier hatte sich einiges verändert. Die Flure waren in freundlichern Farben gestrichen und die Möbel waren leicht und aus hellem Holz. Nach ein paar Treppen waren wir am Ziel. Meine Erinnerung kam wieder. Stimmt. Hier ist es! Die junge Frau lächelte mich an. Sie haben Glück, das Zimmer wird heute kaum noch benutzt! Sie schloss auf und ließ mich eintreten.
Zimmer haben ihre eigenen Gerüche, die sie auch über Jahre hinweg nicht verlieren. Kaum war ich in diesen Raum getreten, hatte diesen Geruch wahrgenommen, war ich wieder 18 Jahre jung, vermeinte ich die Geräuschkulisse zu hören, war ich nicht mehr alleine im Zimmer. Ich lasse Sie jetzt alleine. Niemand wird sie stören! Ich hörte es kaum, sondern tastete mich rückwärts zu dem Bett, in dem ich vor zwanzig Jahren gelegen hatte und schaute auf das Bett gegenüber. Rot-schwarz-grün karierte Bettbezüge. Damals waren sie blau-weiß gewesen.
Die Jahre die dazwischen lagen verschwanden.
Ich sah Sina, wie sie mir gegenüber saß, die langen, blonden Locken um die ich sie beneidete, schüttelte und grinste. Glück muss der Mensch haben. Ich verstand, was sie meinte. Unsere Abiturklasse, oder das was von ihr noch übrig war, war auf Klassenfahrt. Nicht wie heute, wo es nach Barcelona, Paris, oder London geht. Nein, wir hatten uns auf München geeinigt. Für uns aus dem hohen Norden, die wir in der Mehrzahl aus kleinen Dörfern und Weilern kamen, war das schon eine Weltreise.
Klassenfahrt. Eine Woche München. Sechs Jungs, vier Mädchen, Studienrat Steinböck (Deutsch) und Referendarin Hansen (Geschichte), das war das Unternehmen, das am frühen Morgen mit dem Zug von Kiel nach München aufgebrochen war. Der Leistungskurs Deutsch eben. Schon seit frühester Kindheit unzertrennlich, saßen Sina und ich natürlich nebeneinander. Erst dösten alle etwas herum, doch schließlich begannen die einzelnen Aktivitäten. Einige Jungs spielten Karten, oder lasen. Eva-Maria und Lara hatten die Kopfhörer ihres Walkman auf den Ohren und Sina und ich unterhielten uns leise. Eigentlich komisch, dass ich meinen 18. Geburtstag hier in München feiern werde. Ohne Eltern, ohne Verwandte, nur mit euch! Richtig, sie hatte ja am 17. Juli, also morgen, Geburtstag. Sie war unser Nesthäkchen, die letzte von uns, die volljährig wurde.
Nach langer Fahrt waren wir endlich angekommen und hatten die Jugendherberge geentert. Zwei Dreibettzimmer, zwei Zweibettzimmer und je ein Einzelzimmer waren für uns reserviert. Die Aufteilung ergab sich logisch. Die Jungs und Studienrat Steinböck bezogen ihre Dreibett- bzw. das eine Einzelzimmer im zweiten Stock, wir Mädchen und Frau Hansen die Zweibett- und das Einzelzimmer im dritten Stock.
Sina, ließ sich nach hinten fallen und legte die Hände unter den Kopf. Eigentlich bin ich müde, aber pennen kann ich auch zu Hause. Was machen wir jetzt? Ich hatte keine Ahnung. Mal sehen, was die anderen machen! Doch Sina war bald zurück. Eva-Maria und Lara liegen schon im Bett und die Hansen hat auch keinen Bock. Aber sie hat uns erlaubt noch bis zehn Uhr runter in den Saal zu sitzen. Nur raus dürfen wir nicht mehr! Na ja, besser als nichts! Machen wir, dass wir runter kommen.
In diesem Speisesaal war nicht viel los. Ein paar Leute saßen an den Holztischen und unterhielten sich leise. An einem improvisierten Tresen lungerte ein junger Mann herum. Es herrschte Selbstbedienung. Sina und ich holten uns eine Cola und setzten uns an einen der Tische. Der ist süß, der Typ, flüsterte mir Sina zu,. Unauffällig drehte ich mich um. Doch, der konnte mir auch gefallen. Groß, sportlich und ziemlich lässig. Die Haare etwas länger als üblich und immer ein spöttisches Grinsen im Gesicht. Er hatte eine kleine weiße Schürze umgebunden, in der ein Handtuch steckte. Die Arme verschränkt, lehnte er an einen Kühlschrank und sah sich um. Sina lächelte ihm zu und das Lächeln wurde erwidert.
Während wir uns unterhielten, schielte Sina immer wieder nach dem jungen Mann. Bald schon stand sie auf, um sich eine neue Cola zu holen. Und kurz danach die Dritte. Diesmal brauchte sie länger, weil sie ein paar Worte mit dem Jungen Mann wechselte. Als sie wieder kam, strahlte sie über das ganze Gesicht. Jochen ist der Sohn der Herbergseltern und studiert hier in München. Aha, dachte ich. Jochen! Das ging aber schnell. Sina gab sich nicht einmal mehr Mühe, sich mit mir zu unterhalten. Sie lächelte nur noch Jochen an.
Kurz nach zehn Uhr, lagen wir aber doch in der Falle. Der Tag war anstrengend gewesen und so schlief ich tief und fest. Es war Sina, die mich wecken musste. Sie heilt mir einfach die Nase zu. Langsam kam ich zu mir. Los Kerstin, steh auf! Kurz vor sieben. Wir müssen zum Frühstück. Ich quälte mich aus dem Bett und unter die Dusche. Halbwegs wach, kamen wir wenige Minuten später im großen Speisesaal an und setzten uns zu den anderen. Steinböck gratulierte Sina und erst da fiel mir wieder ein, dass sie Geburtstag hatte. Wir andern folgten Steinböck und Sina, lud uns am Abend auf eine Cola ein.
Wenn wir da sind, meinte Marcel und biss in ein Brötchen. Sina sah ihn an. Hey, wir gehen heute mittag ins Stadion. FCB gegen Bochum. Letzter Spieltag. Die Bayern sind Meister. Keine Frage. Ach her je. Fußball! Die Jungs hatten wirklich nichts anderes im Kopf.
Nach dem Frühstück, räumten wir die Zimmer auf machten uns auf dem Weg in die City. Der Vormittag gehörte uns. Nur zum Mittagessen sollten wir uns wieder einfinden. Steinböck machte sich mit den Jungs auf den Weg, die Karten zu besorgen und Hansen kam mit uns Mädchen mit in die Stadt. Also doch mit Aufpasser. Aber weit gefehlt, Hansen verabschiedete sich ziemlich schnell von uns und wünschte uns einen schönen Tag. Sie eilte einem U-Bahn-Eingang zu. Eva-Maria sah ihr nach. Ich denke, die geht zu ihrem Lover! Und als sie unsere fragenden Gesichter sah. Sie hat mal was erwähnt, dass ihr Freund hier irgendwo zeitweise arbeitet.