Dieser Sommer hatte es mal wieder in sich. Glücklich, wer bei diesem Wetter Urlaub nehmen und es sich so gut als möglich gehen lassen konnte. Irgendwo ein kühles, schattiges Plätzchen finden, möglichst mit Wasser in der Nähe, viel trinken und sich so wenig als möglich bewegen. Ebenfalls gut dran war, wer eine Klimaanlage hatte. Beides war bei mir nicht der Fall. Zwar wohnte ich etwas außerhalb der Stadt, aber diese Tatsache brachte nur etwa 3 Grad Vorteil und die Schwüle war genauso schlimm, wie mitten in der Stadt.
Das Wochenende mit legerer Kleidung und Besuch des Badesees war halbwegs erträglich gewesen. Nur die Nächte in der stickigen Wohnung, ließen die temporäre Erholung wieder verschwinden. Hinzu kam, dass ich mir am Sonntag einen leichten Sonnenbrand auf dem Rücken eingefangen hatte und dieser Umstand hatte nicht wirklich dazu beigetragen, dass die Nacht erholsam verlief. Zu allem Übel waren am Abend dicke, schwere Wolken aufgezogen. Zwar hatte es in der Ferne geblitzt und auch Donner war zu hören, nur der ersehnte Regen,
die Abkühlung wollte nicht kommen. Nur ein klein wenig genieselt hatte es, was die Luftfeuchte noch erhöht hatte. Wie ein feuchtes Laken, war die Luft in der Wohnung gestanden und auch die versuchte Querlüftung hatte nichts gebracht. Schlaflos hatte ich mich hin und her gewälzt und Schwüle und Sonnenbrand verflucht.
Der Montagmorgen war nicht besser. Drückend hing die Schwüle in den Häuserschluchten der Stadt. Die Fahrt mit dem Auto war noch einigermaßen angenehm gewesen, der Fahrtwind hatte Kühlung vorgegaukelt. Doch jetzt, in Anzug und mit Krawatte, fühlte ich mich schon nach wenigen Minuten wie durch Wasser gezogen. Alles klebte bereits jetzt an mir. Eigentlich hätte ich mich beeilen sollen, um möglichst schnell ins klimatisierte Büro zu kommen. Doch es gab einen Grund, dass ich peinlich darauf achtete, den morgendlichen Zeitplan einzuhalten.
Und dieser Grund war Sie. Wer sie war, wie sie hieß, überhaupt irgend etwas über sie. wusste ich nicht. Ich wusste nur, dass sie der absolute Hammer war. Eine Frau wie sie, hatte ich noch nie gesehen. Ich wusste aber genauso, dass Frauen wie sie, für Männer wie mich unerreichbar waren. Eine schöne Andeutung des Schicksals, wie es sein könnte, mit dem gleichzeitigen Hinweis darauf, dass es nie so sein würde.
Als ich die Straßenseite wechselte und mich anschickte, die wenigen Meter unter den Arkaden zu meinem Eingang zu laufen, war ich gespannt, ob sie auch heute wieder den üblichen Weg gehen würde. Eigentlich tat sie das jeden Tag und es gab keinen Grund anzunehmen, dass es heute anders sein würde.
Und richtig, von weitem sah ich sie mir entgegen kommen. Schon aus der Ferne sah ich, dass sie heute wieder das niedliche, blaue Sommerkleid trug, dass ihr so unvergleichlich gut stand.
Ich ging noch langsamer, um den Anblick zu genießen, wie sie mir immer näher kam. Jetzt war sie bis auf wenige Meter heran gekommen und blieb plötzlich stehen. Irgendetwas suchte sie in ihrer Handtasche. Noch langsamer lief ich und hatte Muse, sie ganz genau zu betrachten.
Sie war mittelgroß, vielleicht so etwa 1,70 Meter. Ihr wunderschönes Gesicht hatte eine leicht ins rundliche gehende Form, der dunkel Teint, den sie zu jeder Jahreszeit hatte, ließ darauf schließen, dass sich irgendwo in ihrer Ahnenkette südländische Vorfahren verbargen. Ihre leicht schräg stehenden Augen, gaben dem Gesicht etwas exotisches. Ihre rückenlange, braune Haare sahen weich aus und wurden wahlweise von einem silberfarbenen Haarreif, oder einem zum sonstigen Outfit passenden Band in Form gehalten. Heute war es ein Haarreif.
Ihr Gesicht war nur ganz leicht geschminkt, die vollen Lippen trugen einen verführerischen Glanz. Heute trug sie, wie gesagt, das blaue Sommerkleid, das ihre Figur so hervorragend zur Geltung brachte. Ihre kleinen, aber fest wirkenden Brüste wurden von dem Kleid vorteilhaft heraus modelliert. Das zauberhafte Dekollete deutete die Schönheit ihres Körpers an. Wen sie ging, wippten ihre Brüste nur ein ganz klein wenig, dafür aber das Kleid, dass sich ab ihrer schmalen Taille etwas weitete und deshalb von ihren Beinen leicht abstand. Das Kleid endete knapp oberhalb ihrer Knie, war also kurz genug, um ihre wohlgeformten Beine zur Geltung zu bringen. Wie immer stecken ihre zierlich wirkenden Füße in passenden Schuhen. Sie musste eine große Schuhsammlung besitzen.
Jetzt schien sie gefunden zu haben, was sie in ihrer Handtasche gesucht hatte, denn sie ging langsam weiter. Mein Timing war wieder einmal hervorragend gewesen. Genau vor meinem Eingang liefen wir aneinander vorbei. Ich versuchte ihren Blick einzufangen, aber sie ignorierte mich, so wie sie es jeden Tag seit etwas mehr als einem Jahr tat. Dann war sie an mir vorbei. Ohne hinzusehen, fummelte ich den Schlüssel ins Schlüsselloch und sah ihr nach.
Ihr sanft wiegender Gang, das wippende Kleidchen, überhaupt ihre ganze Erscheinung, ließen mich für Sekunden reglos stehen. Erst als sie, wie jeden Tag, um die Ecke bog und aus meinem Blickfeld verschwand, kam ich wieder zu mir und wurde mir der immer noch drückenden Schwüle bewusst. Endlich schloss ich die Türe auf und ließ mich vom Fahrstuhl in den 12. Stock des Bürogebäudes baggern. Langsam ging ich zu meinem Büro, zog endlich das Jackett aus, ließ den Rechner hochfahren und holte mir aus der Kaffeezone den ersten von vielen Kaffees des heutigen Tages. Zurück in meinem Büro, nahm ich mir die erste Akte vom Stapel. Langsam begann ich darin zu blättern und zu lesen.
Auch wieder so ein Fall. Einer von vielen, aber doch immer wieder erschreckend. Junge Frau, so um die zwanzig, wird schwanger, der Vater verlässt die Frau noch während der Schwangerschaft und taucht unter. Kaum zu glauben, dass dies in unserem Land immer noch möglich ist. Drei Jahre hatte er es geschafft, untergetaucht zu bleiben, dann hatten es die Kollegen geschafft, ihn ausfindig zu machen. Doch der junge Mann lebte von Hartz IV und zahlte nach wie vor, keinen Unterhalt. Also musste das Sozialamt einspringen und hatte nun uns aufgefordert, die Lebensumstände der Tochter zu ermitteln. Kyra, ein seltener Name für ein Mädchen von etwa vier Jahren. Noch einmal schaute ich auf das Stammblatt der Mutter.
Annelie Groß, geboren am 23. Mai 1985. Ich musste lächeln. Auf den Tag zwei Jahre jünger als ich.
Ich machte einen Vermerk in die Akte und registrierte sie unter meinem Namen. Jetzt war ich der Sachbearbeiter für Kyra und ihre Mama. Als erstes würde sie von mir einen Brief bekommen, in dem ich ihr das mitteilte. Ich rief das entsprechende Formular auf, ergänzte es um die entsprechenden Falldaten, aktivierte den Druckauftrag und legte die Akte auf die Seite. Fall Nr.2009-12-21_008/Gross,Kyra war vorerst erledigt. Aufseufzend griff ich zur nächsten Akte.
Vielleicht sollte ich etwas von mir erzählen. Mein Name ist Andreas G. Seubert und ich bin 27 Jahre alt. Nach dem Abitur habe ich eine Ausbildung bei der Stadtverwaltung begonnen, parallel dazu an der Verwaltungsakademie meinen Verwaltungsfachwirt gemacht und bin dann im Jugendamt gelandet. Erst als Sachbearbeiter, später als Gruppenleiter und seit Oktober letzen Jahres leite ich die Abteilung Kinder und Soziales. Eigentlich mache ich ja keine Sachbearbeitung mehr und soll mich primär um die Steuerung der Abteilung und um Führungsaufgaben kümmern. Aber so ein paar Fälle übernehme ich doch noch selbst. Erstens sind wir zu wenig Leute und zum anderen will ich in der Materie bleiben. Ach ja, zu meinem Leben gehört nicht nur der Beruf. Ich habe, wenn auch wenig, ein Privatleben.
Nein, sportlich bin ich nicht. Von jeher war ich eher dick, korpulent, da halfen auch alle Diäten nichts. Inzwischen habe ich mich damit abgefunden. Was nicht geht, geht nicht. Schon von Kindesbeinen an, habe ich Musik gemacht. Heute spiele ich Trompete in einem Blasorchester. Natürlich höre ich Sie jetzt aufstöhnen. Blasmusik. Humba-Humba-Täterä! Ja, genauso, habe ich angefangen, erst im Jugendorchester und dann im Vereinsorchester. Nicht, dass mir diese Musik liegen würde. Eigentlich stehe ich mehr auf AC/DC und REO Speedwagon.
Ich hätte auch schon lange aufgehört, wenn sich nicht im Verein eine Bigband gegründet hätte. Und diese Musik zu spielen, macht mir Spaß. Glenn Miller und Bert Kaempfert, das ist die Musik die wir spielen und das ist interessant. Also gehören zwei Abende in der Woche den Proben und an einem weitern Abend spiele ich Schach. Nachdem Sie das jetzt von mir wissen, können Sie sich vorstellen, dass ich im allgemeinen als Langweiler, als nicht in betrachtet werde. Insofern habe ich, außer meinen Schachfreunden und den Musikerkollegen kaum Freunde und natürlich auch keine Freundin. Und vielleicht verstehen Sie jetzt auch, warum ich mich von mir aus nie an Frauen wie die schöne Unbekannte wagen würde. Der erste Eindruck entscheidet und der Zweite, ist auch nicht viel besser.
Um elf Uhr hatte ich das wöchentliche Meeting mit meinen Gruppenleitern. Kritische Fälle wurden besprochen und die Katastrophen vom Wochenende dargelegt. Kinder, die geschlagen wurden und zum Schutz vor ihren Eltern in Einrichtungen oder bei Pflegeeltern untergebracht werden mussten. Ekelige Fälle, Missbrauch oder gar Fälle mit Todesfolge, waren an diesem Tag zum Glück nicht zu verzeichnen. Aber das, was wir hatten war schon traurig genug,
Später am Tage hatte Bettina Schorff noch um einen Termin gebeten und als der stattfand, teilte sie mir mit, dass sie schwanger sei. So sehr ich mich für sie freute, es verstärkte erneut unsere Personalnot. Jetzt würde über kurz oder lang auch noch meine erfahrenste Gruppenleiterin ausfallen.