Etwas angespannt war ich schon, als ich auf dem Rücksitz des Taxis saß und angestrengt aus dem Fenster sah. Die hell erleuchteten Lichter des Kurhauses kamen immer näher und als der junge Taxifahrer die Auffahrt hinauffuhr, gab es keine Zurück mehr. Sandra, die kleine, unbedeutende Sprechstundenhilfe aus der Kinderarztpraxis Dr. Hohlfeld, war im Begriff, in die Welt der Reichen und Schönen einzutauchen. Das Lächeln auf meinem Gesicht war nicht fröhlich, nicht erwartungsfroh. Es war aufgeregt und sehr, sehr nervös. Was tat ich nur hier?
Am sogenannten Heiligen Abend hatte mich morgens um halb acht das Telefon aus dem Schlaf gerissen. Mit halbgeschlossenen Augen tapste ich durch meine Wohnung, die Erfindung des Telefons verfluchend, oder mich, weil ich es am Abend vorher nicht ausgestellt hatte. Verschlafen und krächzend meldete ich mich und hörte die aufgeräumte Stimme meines Chefs. Eine gute halbe Stunde später war ich unterwegs in die Praxis. Ich wusste schon, dass wir Bereitschaftsdienst hatten, aber eigentlich wollte Manuela, meine Kollegin diesen Dienst übernehmen. Dr. Hohlfeld hatte irgend etwas von einer kranken Mutter erzählt. Egal, Manuela konnte nicht und ich musste dementsprechend. Ob ich wollte oder nicht.
Nun so schlimm war es nun auch wieder nicht. Sicher, ich hatte mich auf die freien Tage gefreut, aber auch ein wenig Angst davor gehabt. Es war doch etwas anderes, wenn man das Fest der Liebe gezwungenermaßen alleine verbrachte. Mit Manuel war es aus. Schon seit einiger Zeit. Ich hatte immer mehr gemerkt, wie er mich erdrückte, mich immer mehr mit Beschlag belegte und dabei mich und meine Bedürfnisse immer mehr übersah. Es war für ihn selbstverständlich geworden, dass wir uns nach seinem Terminplan richteten, dass wir nach seinen Wünschen lebten. In jeder Hinsicht. Wir gehen Essen. Zum Italiener! Punkt! Nicht die Frage, ob ich essen gehen wollte und wenn ja, wohin. Er bestimmte. Wenn wir, was selten vorkam, zusammen shoppen waren, bekam ich schon mal zu hören, wie er zur Verkäuferin sagte, wir nehmen das blaue Kleid. Das Rote steht ihr nicht!
Klar war auch, dass er im Bett den Ton angab. Nur seine Bedürfnisse zählten und ich war dazu verdammt, hinzuhalten und es auszuhalten. Bitte nicht falsch verstehen. Manuel war schon gut. Aber es war nicht so, wie ich es gerne erlebt hätte. Aber konnte man es so überhaupt erleben? Geträumt hatte ich schon oft davon, nur erlebt, so richtig erlebt, hatte ich es noch nie.
Der Ablösungsprozess hatte einige Zeit gedauert, war aber dann doch ziemlich schnell vollzogen. Ich sagte ihm, dass es nicht mehr ging mit uns. Anstatt um mich zu kämpfen, stand er eines Morgens da und holte seine Siebensachen. Danach wer es vorbei. Ich löschte seine Telefonnummer aus meinem Nummernspeicher.
Aber ich schweife ab. Also, wie gesagt, es machte mir nicht wirklich etwas aus, den Notfalldienst mit meinem Chef zu übernehmen. Zu meinen Eltern wollte ich sowieso erst zum Abendessen. Die Türen der Straßenbahn öffneten sich zischend und ich stand auf der Straße. Wie üblich war es ziemlich warm geworden, fast frühlingshaft. Dafür regnete es leicht. Noch etwa fünf Minuten hatte ich es zu Fuß. Beim Bäcker nahm ich drei Brötchen mit und lief dann durch die Passage zu dem Haus, in dem die Praxis war. Wie jeden Morgen kam ich am Sexshop vorbei und wie jeden Morgen fragte ich mich, ob ich jemals den Mut finden würde, hinein zu gehen.
Gegen Neun Uhr öffneten wir die Praxis und von da an stand das Telefon, um das sich Jessika, unsere Auszubildende kümmerte, keine Sekunde still. Auch das Wartezimmer füllte sich und wir hatten alle Hände voll zu tun. Und wieder war so ziemlich alles vertreten, was man sich vorstellen kann. Der Säugling mit der Erkältung, die aufgeregte junge Mutter, die das schlafende Baby im Arm hielt. Ich verstehe es nicht, die ganze Nacht hat Justin gebrüllt und keine Sekunde geschlafen. Erst auf der Fahrt hierher ist er eingeschlafen! Meinen Sie, es ist was Schlimmes? Bestimmt nicht, dachte ich bei mir Drei-Monats-Koliken Aber der Doktor sollte ihr das sagen.
Dann war da natürlich noch die typische zwölfjährige, die mit blassem Gesicht und krampfhaft verschränkten Händen neben ihrer Mutter auf dem Stuhl saß und immer wieder zusammenzuckte. Auch hier hätte ich eine Diagnose stellen können. Jede Wette, dass wir in kurzer Zeit eine Überweisung zum Gynäkologen ausdrucken würden.
Der Tag nahm seinen Lauf und als alle draußen waren, rief Dr. Hohlfeld Jessy zu sich in sein Büro. Wenig später kam sie freudestrahlend wieder heraus. In ihrer Hand hielt sie ein Kuvert. Tschüss Sandra, schöne Feiertage noch. Sie winkte mir fröhlich zu und entschwand, um sich mit Marc, ihrem Freund zu treffen. Sie würden den Abend zum ersten mal gemeinsam bei ihren Eltern verbringen. Na ja, Jessy war auch erst knapp 17. Ich hingegen, hatte meinen Geburtstag nur 35 C schon eine Weile hinter mir. Mein Haltbarkeitsdatum war zwar noch nicht überschritten, rückte aber bedrohlich näher.
Sandra, kommen Sie bitte in mein Büro? Der Chef stand in der Tür und ich ging zu ihm hinein. Und als ich eine viertel Stunde später wieder in der Umkleide stand, hatte ich neben dem schon obligatorischen Kuvert, auch noch die zwei Karten für den Silvesterball in der Hand. Machen Sie sich einen schönen und vergnüglichen Abend, hatte mein Chef gemeint und als ich die Karten nicht annehmen wollte, mir erklärt, dass er eigentlich mit seiner Frau hin wollte. Aber jetzt kommt unsere Tochter mit ihrer Familie. Sie werden verstehen, dass wir da nicht ausgehen können! Ich hatte genickt und war mit gemischten Gefühlen aus dem Büro gegangen.
Auch zu Hause wusste ich noch nicht so recht, was ich davon halten sollte. Zwei Karten! eigentlich eine nette Geste. Aber mit wem sollte ich hingehen? Es gab niemanden. Im Internet suchte ich mir die Veranstaltung heraus und stellte fest, dass es ein ziemlich edles, aber auch teures Event war. So eine Karte, wie ich sie in Händen hielt, kostete 150,00. Allerdings war das Buffet darin enthalten. Und ich stellte fest, dass die Karten heiß begehrt waren. Zwei Karten waren mindestens eine zuviel. Denn ich war mir immer noch nicht sicher, ob ich hingehen sollte. Das war viel zu mondän für mich. Aber was war die Alternative? Alleine zu Hause? Nein, ich würde hingehen. Alleine eben. Bereits am Montag hatte ich die überzählige Karte verkauft und war entschlossen, den Erlös dafür für eine Rundumverschönerung auszugeben.
Haben Sie schon mal versucht, für den 31.12. zwei Tage vorher einen Termin beim Friseur und der Kosmetikerin zu bekommen? Ein schwieriges Unterfangen, dass nur halb gelang. Den Friseurtermin hatte ich. Die Kosmetikerin hatte keine Zeit. Der Tag verlief hektisch und so kam ich erst halbwegs zur Ruhe, als ich im Taxis saß. Einen letzten kritischen Blick in den Spiegel hatte ich mir noch gegönnt, als der Taxifahrer schon geklingelt hatte. Das rote Abendkleid aus Taft, das goldfarben gewirkte Netztuch über den Schultern und über dem ziemlich tiefen Ausschnitt zusammen gerafft, die eleganten schwarzen, hohen Samtschuhe mit der roten Applikation, das passende Handtäschchen und nicht zu vergessen, das silberne Collier, das ich nur ganz selten trug, weil ich allergisch darauf reagierte. Doch, es würde einigermaßen gehen.
Das Taftkleid raschelte, als ich ausstieg. Der Taxifahrer hatte mir die Tür geöffnet und war mir beim Aussteigen behilflich. Seine bewundernden Blicke gaben mir für den Moment Sicherheit. Vorsichtig stöckelte ich die Treppe hoch und zeigte artig meine Karte vor. Ein vornehm gekleideter Saaldiener, wies mir den Weg. Der Weg zu meinem Tisch kam einen Spießrutenlauf gleich. Es waren weniger die Männer, als viel mehr die Frauen, die mich kritisch musterten. Auch ich sah mich aus den Augenwinkeln um. Mann, was für elegante Roben. Ich kam mir vor, wie ein Bauernmädchen, dass sich in den Bundespresseball eingeschlichen hat. Ich huschte auf meinen Platz und bemühte mich um Unsichtbarkeit.
Ein Kellner kam und fragte mich nach meinem Wunsch. Ich entschied mich für Mineralwasser. Mit einem höflichen Nicken grüßte ich die anderen Gäste an meinem Tisch. Ich war die letzte, die gekommen war. Jetzt saßen acht Personen im Rund. Einige unterhielten sich, andere sahen sich einfach nur um. Auch die Dame, der ich die überflüssige Karte verkauft hatte. Sie würdigte mich keines Blickes. Ihre Augen gingen hin und her und taxierten die Männer. Ganz offensichtlich war sie auf der Jagd.
Das Programm begann. Launige Moderationen des Confronciers verbanden die einzelnen Gigs. Relativ bekannte Sänger und Sängerinnen gaben ihre Lieder zum Besten, Spiele wurden gespielt und der eine oder andere Comedian, gab eine Probe seines Könnens. Ich begann mich zu entspannen. Der Abend wurde langsam richtig gut. Irgendwann wurde das Buffet eröffnet und als der erste Ansturm vorbei war, holte ich mir auch einen Teller mit schönen Leckereien.
Schließlich wurde der Tanz eröffnet. Der Oberbürgermeister und die Frau des Regierungspräsidenten waren die ersten, die einen Walzer aufs Parkett legten. Nach und nach füllte sich die Tanzfläche, dafür wurden die Tische leerer. Zu meinem Erstaunen wurde auch ich ein, oder zweimal zum tanzen aufgefordert, eine Erfahrung, die ich schon lange nicht mehr gemacht hatte. Irgendwann machte es mir sogar richtig Spaß, denn eigentlich tanze ich sehr gerne.
Einer meiner Tanzpartner, wollte mich in die Bar einladen, doch ich lehnte dankend ab. Danach verlor er das Interesse an mir und brachte mich an meinen Tisch zurück. Da saß ich nun alleine und sah den anderen Paaren beim tanzen zu. Ich nippte an meinem Wein, den ich mir dann doch bestellt hatte und sinnierte so vor mich hin. Schade eigentlich. Der Ball war sehr schön. Aber noch schöner wäre es gewesen, wenn ich nicht alleine hier sein müsste.