Natürlich war es drückend schwül, aber auch ziemlich heiß. Die Sonne brannte grell von Himmel und ich war ziemlich froh, dass ich meine empfindlichen Augen hinter der Sonnenbrille verstecken konnte. Nicht nur wegen der grellen Lichtreflexe, die der helle Belag des Platzes noch zu verstärken schien. Nein auch deswegen, weil ich ziemlich müde war. Die Nacht war ziemlich anstrengend gewesen. Jetzt saß ich da in diesem Straßencafe auf dem Bachplatz und sah dem stetigen Strom sonntäglicher Spaziergänger zu. Schon der dritte Kaffee stand vor mir und nach Lage der Dinge würden ihm noch einige weitere folgen. Gott war ich fertig.
In der vergangen Nacht hatte ich die letzte Nachtschicht des zurückliegenden Turnus hinter mich gebracht. Zwölf lange Stunden auf dem Notarzt-Einsatz-Fahrzeug, gemildert durch die Tatsache, dass ich mit Sina Dienst gehabt hatte. Frau Dr. Sina Mahler. Anästhesistin und Notfallmedizinerin aus Leidenschaft, liebenswert, freundlich, kompetent und glücklich verheiratet. Die Dienste mit ihr waren immer angenehm. Gestern abend hatte sie zum Dienstantritt Eis mitgebracht und uns angekündigt, sie würde für uns, also sich, mich und die zwei Mann der RTW-Besatzung gegen später ein leichtes Abendessen zubereiten. Damit ihr nicht ständig diese blöde Pizza in euch rein stopft!
Nun, zu dem Essen kamen wir irgendwann zwischen Mitternacht und 02.00 Uhr. Sina hatte Salate vorbereitet, aber entweder waren wir nicht da, oder der RTW hatte einen Einsatz. Bei uns ging es ziemlich ruhig zu. Zumindest in der ersten Hälfte der Nacht. Als wir uns schlafen gelegt hatten, sah die Sache anders aus und bei jedem Alarm überlegte ich mir erneut, warum ich mir kein anderes Hobby gesucht hatte. Würde ich Fußball spielen, würde mich kein Mensch mitten in der Nacht aus dem Schlaf reißen. Na ja, Schlaf! Mehr als ein Dösen war es sowieso nicht.
Die Geräusche der Nacht, der ständig präsente Funkverkehr, auch wenn das Gerät leise gedreht war. Und dann, halb erwartet, halb überraschend, eine Fünftonfolge, darauffolgend die Kanal belegt Töne, die sich mit dem enervierenden Weckruf des Funkmeldeempfängers mischten, das Knistern und das statische Rauschen der Frequenz und danach die Stimme des Disponenten. Hier Leitstelle... Notfalleinsatz 6/82/1... Ausrücken in Richtung Gartenstadt!
Aus dem Bett hochrappeln, Hose und Stiefel anziehen, sich zum Schreibtisch vortasten. Lichtschalter an, Augen geblendet schließen, nach dem Telefon greifen. Morjn! Fahrt mir mal in die Gartenstadt. Hortensienweg 13. Der Name Müller. Verdacht auf Apoplex. Hausarzt vor Ort! Der 4/83/2 kommt von der Autobahn her!
Hörer auflegen, Zettel schnappen und raus. Auf dem Weg zum Auto kurz an der großen Karte stehen bleiben. Du musst sowieso auf deinen Doktor warten. Kurzer Überblick. Alles Klar! Die Doktorin kommt die Treppe herunter und schließt im Laufen ihre Hose. Die Jacke hat sie halb unter dem Arm. Zur Tür raus, in angemessener Eile, aber ohne Hast die Rampe runter, zum Auto, Stecker ziehen, einsteigen Sicherheitsgurt anlegen und die Tasten 3 und 7 gedrückt. Und los geht es. Zügig über den Wirtschaftshof der Klinik. Der Pförtner sieht dich kommen und öffnet die Schranke. Was ham wir? Fragt Sina. Kurze Erklärung. Links abbiegen und auf die Kreuzung zufahren. Die Blaulichter zucken gespenstisch durch die Nacht. Wandel - Goltermann bleibt stumm. Warum auch Krach machen? Außer uns ist sowieso niemand unterwegs.
So oder so ähnlich läuft jeder Alarm ab. Und fast jedes mal frage ich, warum ich mir das antue. Ganz einfach, weil ich mir so mein Studium finanziere. Sechs Einsätze hatten wir in dieser Nacht gehabt, den letzten gegen vier Uhr. Als wir wieder zurück waren, wartete ich nur noch auf die Ablösung. Conny kam pünktlich, ich übergab ihm das Fahrzeug offiziell und machte, dass ich nach Hause kam. Schnell duschen und dann ab ins Bett. Doch die Hitze ließ mich nicht lange und nur unruhig schlafen. Schon gegen 12.00 Uhr war ich wieder wach, oder sagen wir besser, ich konnte nicht mehr liegen bleiben. Aufstehen und erneut unter die Dusche. Dann entschloss ich mich, mein Frühstück im Saragotha einzunehmen.. Und da saß ich jetzt, trotzte der Hitze und Schwüle, bekämpfte meine Müdigkeit mit einem Kaffee nach dem anderen und überlegte, was ich mit dem angebrochenen Tag anfangen sollte.
Mechanisch rührte ich in meinen Kaffee. Plötzlich hielt die Hand inne und ich richtete mich auf. Eine junge Frau kam auf mich zu. Die hatte ich doch schon mal irgendwo gesehen. Aber wo? Das ich dachte nach, während sie sich einen Platz suchte und in meiner Nähe den einzigen Tisch okkupierte, der noch frei war. Jetzt war ich über meine Sonnenbrille besonders froh. Woher kannte ich sie nur? Lange braune Haare, in die sie jetzt die große Sonnenbrille gesteckt hatte. Ein Gesicht mit niedlichen Sommersprossen, eine traumhafte Figur, die in einem mintgrünen T-Shirt steckte, weiße siebenachtel Hosen. Ich kannte sie, da war ich mir sicher! Aber woher?
Ich grübelte und grübelte. Dieser Anblick! Ich hatte sie schon mal gesehen und das vor nicht allzu langer Zeit. Sicher hätte ich noch ewig nachgedacht, wäre da nicht plötzlich das charakteristische Geräusch eines Sondersignals gewesen. Nicht nur mein Blick suchte de Verursacher. Das NEF, dass ich noch vor ein paar Stunden selbst gefahren hatte, fuhr die Straße entlang. Schemenhaft erkannte ich Conny und seinen Arzt. Dann waren sie auch schon vorbei. Ich wendete meinen Blick wieder der schönen Unbekannten zu. Auch sie hatte dem Auto nachgesehen. Das Geräusch, das vorbeifahrende Auto und der Anblick der Frau, das alles sorgte dafür, dass sich der Nebel in meinem Gehirn schlagartig lichtete. Natürlich! Unser erster Einsatz. Glasklar standen die Bilder vor meinen Augen.
Kurz vor 22.00 Uhr war es gewesen, als uns die Leitstelle in die neue Siedlung geschickt hatte. Unklare Atemnot, hatte die Diagnose gelautet. Zusammen mit dem RTW waren wir angekommen. Ein schluckloser Appartementblock, ein kleines Appartement im ersten Stock. Nur ein Raum, eine mit einem Vorhang abgetrennte Küche, ein Bad. Seltsam eingerichtet das ganze. Ein kleiner Tisch, ein Sofa ein Sessel. Fernseher auf einem Regal, eine Stereoanlage, ein Bett, auf dem kein Bettzeug lag, an der Querseite des Bettes an der Wand ein Spiegel. Die Luft abgestanden und nach kaltem Rauch riechend. Und auf dem kleinen Sessel saß sie. Eben jene junge Frau. Es war ein mintgrünes Spagettitop und ein kurzer weißer Rock, was sie getragen hatte. In ihrem Gesicht stand Panik, der Atem ging tief, schnell, krampfhaft. Ein kurzer Blick auf ihre Hände. Verkrampft und nach innen gebogen. Pfötchenhände Stellung eben! Kein Grund zur Panik. Schemenhaft nahm ich einen Mann wahr, der ebenfalls noch in diesem Appartement war. Ein Blick zu Sina, die nickte. Die Kollegen vom RTW taten schon das notwendige. Ich kniete mich neben die junge Frau und versuchte sie zu beruhigen. Patienten zentriertes Verhalten eben.
Das würde kein Transport werden. Wegen einer Hyperventilationstetanie kam niemand in die Klinik. Interessanter war schon, warum sie sie hatte. Die Maßnahmen der Kollegen zeigten die erste Wirkung. Nur sprechen konnte sie noch nicht Ich sah mich erneut um. Der Mann, den ich vorher gesehen hatte, war verschwunden. Das ganze wurde immer seltsamer. Noch größer wurde mein Erstaunen, als Sina entschied, die junge Frau in die Klinik bringen zu lassen und den Transport zu begleiten. Ich war anderer Meinung, aber sie war die Ärztin. Sollte sie sich mit dem aufnehmenden Arzt auseinander setzen. Tausendmal geübte Handgriffe liefen ab und schließlich wurde die Junge Frau auf der Trage durch das Treppenhaus zum Aufzug gerollt. Ich besorgte über Funk ein Bett für sie und zockelte dem RTW hinterher.
In der Notaufnahme sagte mir Sina, dass sie in die Wache laufen würde, wenn sie hier fertig war. Du kannst schon mal den Schreibkram machen. Ich zuckte mit den Schultern und fuhr langsam zurück. Was war heute nur mit Sina los. Auch als sie nach einer Stunde wieder in der Wache war, blieb sie schweigsam. Sie brachte mir nur die Daten unserer Patientin mit. Lara Ritter, etwas älter als achtzehn Jahre. Die Adresse hatte mich etwas erstaunt. Sie war anders, als die des Einsatzortes. Aber was ging es mich an? Ich ergänzte das Protokoll um die persönlichen Daten und gab es Sina zum unterschreiben. Sina war und blieb schweigsam. Ungewöhnlich, denn sonst sprachen wir über unsere Einsätze. Mit keinem Wort kam sie an diesem Abend auf diesen Einsatz zurück und nach und nach vergaß ich ihn. Bis jetzt. Jetzt war er mir wieder präsent.
Lara sah zu mir herüber und ich nickte ihr lächelnd zu. Irritiert sah sie mich einen kurzen Moment an und wendete dann den Blick von mir. Klar, sie hatte mich nicht erkennen können. Diesmal trug ich keine Dienstkleidung, dafür aber die dunkle Sonnebrille. Ich nahm sie ab und versuchte es noch einmal, als sie wieder zu mir her sah. Wieder wand sie sich von mir ab und nichts zeigte, dass sie mich erkannt hatte. Als sie ihr Getränk gebracht bekommen hatte, nahm ich meine Tasse und ging zu ihr hinüber. Hallo! Darf ich? Dabei zeigte ich auf einen Stuhl. Ich sah Ablehnung in ihrem Gesicht, setzte mich aber trotzdem. Geht es ihnen wieder besser? Jetzt sah ich das Erschrecken in ihrem Gesicht. Mehr noch, es drückte regelrecht Panik aus. Aber ich sah auch, dass sie mich erkannte. Danke, ja! Mehr sagte sie nicht.
Wir schwiegen uns an. Und nun? Was wollen Sie von mir? Fast schon aggressiv kamen diese Worte aus ihrem Mund. Nichts! Ich wollte nur wissen, wie es ihnen geht. Wir haben nicht oft die Gelegenheit, einen Patienten gesund wieder zu sehen. Sie nickte, in Gedanken versunken. Wir schwiegen uns an. In großen Schlucken trank sie ihr Glas leer. Ich winkte die Bedienung herbei und bestellte für sie und mich. Wieder sah ich die Ablehnung in ihrem Gesicht, aber sie sagte nichts.