Seit ich zurückdenken kann, trage ich eine Brille. Selbst in meinen frühesten Kindheitserinnerungen habe ich dieses unförmige Gestell mit den dicken Gläsern auf der Nase. Die Jahre vergingen, die Sehstärke veränderte sich, nur die Gestelle blieben gleich. Unförmige Teile, die mein an und für sich schon rundes Gesicht noch auffälliger machten, es noch mehr hervorhoben. Irgendwann probierte ich es mit Kontaktlinsen, doch ich konnte mich nie an die Fremdkörper in meinen Augen gewöhnen. Also kehrte ich nach einer Versuchsphase reumütig zu den Brillen zurück.
Mit der Zeit wurden die Gestelle etwas filigraner und bunter. Aber es blieb die Tatsache, dass ich ohne Brille nichts tun konnte. Es ging sogar soweit, dass ich mir eine Sonnenbrille in meiner Sehstärke zulegte. Ich hatte erkannt, dass ich im Freibad nicht lesen konnte, wenn ich eine gewöhnliche Sonnenbrille trug. Und, was viel schlimmer war, ich konnte die Schönheiten kaum erkennen, die da in äußerste knappen Bikinis an mir vorüber flanierten.
Jetzt war es wieder soweit, ich brauchte eine neue Brille ich bekam immer mehr Schwierigkeiten, wenn ich Kleingedrucktes lesen wollte Aus Erfahrung klug geworden, ließ ich mir einen Termin bei meinem Augenarzt geben. Und kaum drei Monatespäter war es soweit. Ich hielt ein Rezept für eine neue Brille in Händen. Wäre alles normal gelaufen, wäre ich zu meinem angestammten Fachgeschäft gegangen, hätte mich vom alternden Inhaber beraten und mir eine weitere Brille anpassen lassen. Doch diesmal wollte es das Schicksal anders. Zum Glück!
Endlich Feierabend. Draußen schien nach langer Zeit mal wieder die Sonne, es war warm geworden. Die Straßencafes waren bevölkert und viele Menschen waren unterwegs, um den Frühlingsabend in vollen Zügen zu genießen. Die Kleidung der Frauen und Mädchen war luftiger, leichter geworden. Es war eine Freude für mich, an einem der Tische des Straßencafes zu sitzen, meinen Capuccino zu schlürfen und dabei den Anblick zu genießen, der sich mir rundherum bot. Gerade folgte mein Blick einem entzückendem Wesen, dessen niedlicher Minirock bei jedem Schritt um die bildschönen Beine wippte, als ich das Schaufenster eines neuen Optikers streifte. Hoppla, was war denn das? Ich konnte mich nicht erinnern, dieses Geschäft schon einmal gesehen zu haben.
Ein Wink des Schicksals? Vielleicht! Ich beschloss, nach dem Genuss meines Capuccinos, einfach einmal in diesen Laden zu gehen. Aber das hatte noch Zeit, es war ja noch früher Nachmittag. Immer noch meinen Capuccino in kleinen Schlucken trinkend, lehnte ich mich zurück und ließ meine Augen weiden. Es gab einfach zu viele wunderschöne Frauen in dieser Stadt. Doch keine schien für mich bestimmt zu sein. Ich seufzte tief, trank den letzten Schluck und bezahlte. Langsam erhob ich mich und machte mich auf den Weg zu meinem Ziel.
Ein altmodisches Klingeln ertönte, als ich die Türe öffnete und sofort in einer anderen Welt war. Das war keine dieser unpersönlichen Optikerketten. Das war, das sah ich auf den ersten Blick, eine sogenanntes Inhaber geführtes Fachgeschäft. Mit viel Liebe war die Einrichtung ausgewählt worden. Hell und freundlich und trotzdem irgendwie anheimelnd. Große, helle Vitrinen stellten hochwertige und durchaus schöne Gestelle aus. Sicher, es gab da auch Garnituren, mit denen ich mich nicht einmal tot über einen Gartenzaun hängend hätte zeigen wollen. Die Auswahl war riesig, doch ich hoffte, hier eine kompetente Beratung zu erhalten. Meine letzte Garnitur war wirklich ein Fehlgriff gewesen.
Ein freundlicher Herr etwa meines Alters kam auf mich zu. Er begrüßte mich Handschlag. Kein unpersönliches Namensschild verriet seinen Namen, nein, er stellte sich förmlich vor. Höflich fragte er nach meinem Begehr und ich reichte ihm das Rezept. Er bat mich Platz zu nehmen und begann ein Gespräch. Gleich zu Beginn, bot er mir einen Kaffee an. Dankend nahm ich an. Er entschuldigte sich, stand auf und verschwand in den hinteren Räumen. Doch nach wenigen Sekunden war er wieder da. Ohne Kaffee. Er setzte sich und begann geduldig zu erklären, was für unterschiedliche Möglichkeiten es gab, die Sehschärfe zu korrigieren. Glas, Kunststoff, entspiegelt, bedampft, was weiß ich. Er zählte die jeweiligen Vor- und Nachteile auf, erwähnt die Kosten und begann langsam zu erforschen, in welche Richtung ich tendierte. Schließlich fällte ich eine Entscheidung, dann ging es an die Auswahl des Gestells.
Gerade war er aufgestanden um einige Modelle zu holen, als sie erschien. Sie kam auf mich zu, ein Lächeln im Gesicht. Sie trug ein kleines Silbertablett, auf dem mein Kaffe stand. Immer noch lächelnd, stellte sie das Tablett vor mich. Ich gestehe, sie beeindruckte mich nicht. Sicher, sie war irgendwie hübsch, aber sie entsprach nur bedingt meinem Beuteschema. Ich sah kurz zu ihr hoch, bedankte mich und wand mich meinem Berater zu, der inzwischen zurück gekehrt war. Die Junge Frau drehte sich um und beschäftigte sich hinter einem Tresen.
Der Tresen lag genau in meiner Blickrichtung und ich konnte erkennen, dass sie mit irgendwelchen filigranen Werkzeugen an Gestellen herum hantierte.
Immer wieder setzte ich mir ein Gestell auf und versuchte mich im Spiegel zu betrachten. Leicht gesagt, aber schwer getan, wenn man ohne Sehhilfe blind wie ein Maulwurf ist. Hinzu kommt, dass ich einfach keinen Geschmack habe. Auch bei der Wahl meiner Anzüge, Hemden und Krawatten bin ich auf kompetente Hilfe angewiesen. Mein Berater gab sich Mühe, aber ich konnte mich einfach nicht entschließen. Was passte zu mir? Was war unmöglich? Ich wusste es einfach nicht. Schließlich winkte mein Berater die junge Frau zu uns. Alice, vielleicht helfen Sie uns einmal. Es ist eine schwierige Entscheidung und sie haben ein Gespür für solche Sachen. Alice nickte und kam zu uns. Im Moment trug ich wieder meine alte Brille. Ich sah sie mir etwas genauer an.
Sie mochte wohl so Mitte dreißig sein. Sehr groß war sie nicht, aber auch nicht unbedingt klein. Das hübsche Gesicht wurde von schulterlangen, lockigen, dunkelbraunen Haaren umspielt. Schlank war sie und wohl proportioniert. Sie trug eine cremefarbene, ziemlich leichte Hose, die ob ihrer Falten, irgendwie an Krepp erinnerte. Dazu passend nicht allzu hohe Schuhe. Das Oberteil war ein leichter, ziemlich eng anliegender brauner Pulli mit dreiviertellangen Ärmeln. Zugegebener Maßen modellierte das Teil ihre Brüste wunderschön. Doch, das Mädchen konnte sich sehen lassen.. Meine Augen wanderten zu ihrem Gesicht. Es hatte eine leicht längliche Form, die noch etwas dadurch verstärkt wurde, dass sie einen leichten Überbiss hatte. Nicht viel, gerade so dass man es registrierte, wenn man sie ansah. Doch das tat ihre Schönheit keinen Abbruch. Sie hatte volle Lippen und Augen, die immerzu zu lächeln schienen. Katzengrüne Augen waren das, mit langen, weichen Wimpern. Doch, jetzt beeindruckte sie mich!
Von Vorteil war natürlich, dass ich sie jetzt unverwandt ansehen konnte. Dachte ich zumindest. Doch die Gestelle, die ich nun in schnellem Wechsel aufsetzte, hatten nur Fensterglas und so nahm ich Alice nur schemenhaft wahr. Nach etwa einer halben Stunde hatte ich, auf ihren Rat hin, ein rahmenloses Modell mit schmalen, metallicblauen Bügeln ausgewählt. Sowohl der Geschäftsinhaber, als auch Alice hatten mir dazu geraten. Ich besiegelte den Kauf mit meiner Unterschrift. In ca. zwei Wochen ist ihre neue Brille fertig. Wir rufen Sie an. Wir standen auf und ich griff nach meiner Brille. Doch Alice war schneller. Ich putze sie Ihnen noch schnell und damit verschwand sie hinter dem Tresen. Ich hörte das hochfrequente Surren des Ultraschallgerätes und bekam wenig später die Brille zurück. Doch erneut nahm Alice sie mir ab und bog etwas daran herum. Jetzt setzte sie mir die Brille auf und kam mir dadurch sehr nahe. Ich atmete ihren angenehmen Duft ein und sah, dass sie leichte Sommersprossen hatte. Schließlich war sie zufrieden. Der Optiker brachte mich zur Ladentür und verabschiedete mich mit Handschlag.
Nach der angenehm dezenten Beleuchtung des Ladens, überfiel mich das gleißende Sonnenlicht so sehr, dass ich die Augen zusammenpressen musste. Langsam ging ich meinen Weg zum Auto. Erst zu Hause merkte ich, dass ich meine Aktentasche vermisste. Erst bekam ich einen Schreck, dann wurde mir klar, dass ich sie beim Optiker vor dem Tressen hatte stehen lassen, als Alice meine Brille in der Mangel hatte. Sofort rief ich an, doch niemand meldete sich mehr. Nur der Anrufbeantworter sagte mir, dass der Laden jetzt leider geschlossen sei, man mir aber gerne morgen ab 09.00 Uhr zu Diensten sei. Kein Problem. So wichtig war die Tasche nicht. Ich richte mir ein kleines Abendessen, sah mir beim Essen die Tageschau an und verzog mich dann auf meinen Balkon. Nach dem langen Winter, tat die Wärme richtig gut. Ich machte es mir mit einem Glas Saft bequem. An Stelle der Fachliteratur las ich ein Buch. Es wurde ein gemütlicher Abend. Ich vergaß die Aktentasche, den Optiker und Alice.
Erst im Bett kam sie mir wieder in den Sinn. Mit geschlossen Augen träumte ich, wie sie mich sanft berühren würde, wenn sie mir die neue Brille anpassen würde. Ich sah ihr Augen, sah die winzigen Sommersprossen und atmete ihren Duft ein. Jetzt, im nachhinein betrachtet, hatte sie mir gut gefallen. Mit ihrem Bild vor Augen schlief ich ein. Es war ein tiefer, traumloser Schlaf, aus dem ich erfrischt erwachte.
Rasieren, duschen, Zähne putzen und dann die erste von unzähligen Tassen Kaffee des neuen Tages. Wieder schien die Sonne. Es würde ein herrlicher Tag werden. Ich fuhr ins Büro und begann mit meiner Arbeit. Gegen 10.00 Uhr teilte ich unserer Assistentin mit, dass ich für eine halbe Stunde außer Haus sei und machte mich auf den Weg, meine Tasche zu holen. Wieder begrüßte mich der Optiker mit Handschlag und Namen und übergab mit meine Aktentasche. So sehr ich mich auch umsah, ich konnte Alice nirgends entdecken und ich war ziemlich enttäuscht, als ich wieder auf der Straße stand.