Gunter stand vor dem weit geöffneten Schlafzimmerschrank. Sollte er, oder sollte er nicht? War eine Krawatte angebracht, oder sollte er eher leger zu dem Treffen erscheinen? Zu diesem Treffen, diesem ganz speziellen Treffen. War das nun Zufall oder Schicksal, dass ausgerechnet. Annette die Assistentin von Oschmann war. Diesem Oschmann, dem er nun unbedingt seine Dienste anbieten wollte. Oschmann war ein großer Fisch im Teich der Unternehmensberater. Hatte er ihn einmal als Referenz gewonnen, würde es ihm leichter fallen, in diesem Marktsegment Fuß zu fassen. Schon als sich Annette gemeldet hatte: Oschmann, Fuchs und Partner, mein Name ist Annette Bohley, hatte es ihm einen Stich gegeben. War das die Annette Bohley, die er von früher kannte. Die Annette, die ihn zur Raserei getrieben hatten und schließlich aus seinem Leben verschwunden war. Gunter hatte sein Anliegen vorgebracht, aber Oschmann war nicht da gewesen. Sagte sie zumindest. Schließlich hatte er seinen ganzen Mut zusammen genommen und sie gefragt, ob sie die Annette sei. Nach einem kurzen Moment des Schweigens, hatte sie es bestätigt. Ein langes Gespräch war gefolgt und schließlich hatten sie sich für heute verabredet. In Gedanken versunken, spielte Gunter mit einer Krawatte und ließ sie durch die Finger gleiten.
Strahlender Sonnenschein den ganzen Tag. Schon morgens war es in den Büros vor lauter Hitze kaum auszuhalten. Die Vermögensberater hatten es gut. Deren Büros waren klimatisiert. Das Gemeinschaftsbüro der Nachwuchsberater lag im Anbau. Südseite und keine Klimaanlage. Die Wärme hatte sich aufgestaut. Das Hemd durchgeweicht und am Rücken klebend, saß Gunter an seinem Schreibtisch und tat, als würde er Charts lesen. Ödes Geschäft. Telefondienst, nannten sie das. Eigentlich war die Arbeitszeit ja schon seit einiger Zeit vorbei, aber es konnte ja sein, dass ein Kunde im nachbörslichen Handel noch etwas kaufen oder verkaufen wollte. Oder nur etwas Fragen. Dafür war einer der Seniorberater noch da. Gunter und sein Kollege Thomas sollten am Telefon filtern. Was war wichtig, was nicht!
Die Tür ging auf und Thomas kam wieder herein. Mit einer lässigen Handbewegung, warf er Gunter einen eiskalten Schokoriegel hin. Scheißjob! Wir hängen hier rum, und draußen tobt das Leben. Gunter nickte und legte die Zeitschrift beiseite. Stimmt. Wie gerne wäre ich jetzt am Baggersee. Kühles Wasser und frische Luft! Und hübsche Mädchen, mit wenig an! Beide lachten. Vielleicht lässt uns der Hager früher gehen, dann können wir noch raus fahren! Thomas meinte es leichthin. Dann frag ihn mal! Dass ich verrückt wäre. Der schmeißt mir doch was nach, wenn ich ihm damit komme! Gunter nickte zustimmend. Hager war zwar ein eigentlich angenehmer Mann, aber was solche Sachen anging, war mit ihm nicht zu handeln. Umso erstaunter waren die Beiden, als plötzlich Hager in der Tür stand.
Gehen Sie doch nach Hause, meinen Herren. Heute ist nicht viel los. Stellen Sie das Telefon um und verschwinden Sie. Ist so schönes Wetter! Gunter und Thomas bedankten sich überschwänglich, räumten ihre Schreibtische auf und waren zehn Minuten später auf dem Weg zum Baggersee.
Die Parkplatzsuche gestaltete sich schwierig, schließlich hatten sie es doch geschafft. Kurze Zeit später waren beide im Wasser und genossen das kühlende Nasse. Lass uns rüber schwimmen, meinte Gunter, aber Thomas hatte keine Lust dazu. Also schwamm Gunter alleine los. Drüben angekommen, legte er sich ins Glas und träumte in den Himmel. Er zog so etwas, wie Bilanz. Sein Leben verlief bisher in geordneten Bahnen. Nach der Ausbildung hatte er berufsbegleitend studiert und dann ein Stipendium für ein Semester auf der London School Of Economics bekommen. Wieder in Deutschland, standen ihm bei seinem Arbeitgeber, alle Wege offen. Er hatte sich für die Vermögensberatung entschieden. Theoretisch gut ausgebildet, war er nun dabei, die praktischen Tücken des Geschäfts zu erlernen. Wie gesagt, sein Leben verlief nach Plan, wenn da nicht eine Sache gewesen wäre. Er hatte keine Freundin und so wie es aussah, würde sich das nicht so schnell ändern. Irgendwie fiel es ihm schwer, Mädchen kennen zu lernen.
Gunter setzte sich hin und starrte auf den See. Ein Mädchen kam gerade aus dem Wasser. Groß, schlank, lange Beine. Der grasgrüne Bikini stand ihr ausgezeichnet. Und er modellierte ihre Figur. Einen schönen Busen hatte das Kind. Und wie die Titten beim gehen sanft auf und ab wippten. Einfach traumhaft. Das lange Blondhaar war zu einem Pferdeschwanz gebunden, der ebenfalls bei jedem Schritt wippte. Tolles Mädel, dachte Gunter. So nah und doch unerreichbar! Sie blieb plötzlich stehen, wrang sich das Wasser aus dem Pferdeschwanz, dann schien sie weitergehen zu wollen, entschied sich aber anders. Drei, vier Schritte in Gunters Richtung und sie blieb erneut stehen. Entschuldige, hast du eine Uhr dabei? Süße Stimme, dachte Gunter. Ja, hab ich. Ist genau viertel nach sechs. Danke, dann habe ich ja noch Zeit. Und nach einem kurzen Zögern, Darf ich mich zu dir setzten, oder störe ich dich? Nein, du störst nicht. Nimm Platz. Plötzlich saß sie neben ihm. Nach einem Moment des Schweigens meinte sie leichthin. Schön hier, nicht? Und als Gunter bestätigte, viel schöner als drüben. Da ist es so laut. Jetzt legte sie sich neben Gunter auf den Rücken, schloss die Augen und atmete tief ein. Einfach herrlich, hier! Gunter schwieg und betrachtete sie aus den Augenwinkeln. Ein schönes Kind. Ihr Busen hob und senkte sich bei ihren ruhigen Atemzügen. Ich heiße übrigens Annette, sagte sie mit immer noch geschlossenen Augen. Gunter, meinte Gunter. Bist du öfter hier? Fragte sie. Wenn ich Zeit finde. Dann herrschte wieder schweigen. Bist du alleine hier? Wagte Gunter nach einiger Zeit zu fragen. Nein, ich bin mit einer Freundin hier. Deshalb muss ich auch um halb acht, wieder drüben sein. Sie ist mit ihrem Freund verabredet und will mit ihm weg gehen! Und du? Na, ich gehe halt mit. Wir sind mit ihrem Auto da. Nein, ich meine, ob du auch mit deinem Freund verabredet bist? Gunter wunderte sich über seinen Mut. Annette richtete sich halb auf. Leider nein. Ich habe zur Zeit keinen Freund! Ich werde nach Hause gehen und lernen. Was lernst du? Wir schreiben demnächst eine Klausur. Spanisch. Ich studiere Sprachen. Und was machst du? Gunter erklärte ihr seine Tätigkeit. Jetzt lachte sie. Nein, ich meine, was du heute Abend machst. Weiß ich noch nicht.
Während sie später nebeneinander zurück schwammen, kämpfte Gunter mit sich. Immer wieder setzte er an, unterließ es aber dann doch. Als sie ans Ufer kamen, nahm er seinen ganzen Mut zusammen. Wollen wir was trinken gehen? Ich habe ein Auto dabei und könnte dich danach nach Hause fahren. Annette sah ihn von der Seite an. Nach einem Zögern, antwortete sie. Gern, aber ich muss erst noch zu meiner Freundin. Und ich muss zu Hause Bescheid sagen, dass ich später komme. Gunters Herz tat einen Sprung. Sie vereinbarten, sich in einer halben Stunde an der Schranke vom großen Parkplatz zu treffen. Gunter raste zu seinem Platz. Thomas war da und unterhielt sich gerade mit einem Bekannten. Rigoros unterbrach Gunter das Gespräch. Entschuldige Thomas. Ich muss fort. Hab da jemand getroffen, mit dem ich mich verabredet habe. Dabei suchte er schon seine Sachen zusammen. Thomas sah ihn mit einem komischen Blick an, sagte aber nichts. Gunter schnappte seine Tasche und machte sich auf den Weg. Dann stand er an der Schranke und wartete mit klopfendem Herzen.
Annette kam auf ihn zu. Sie trug ein kurzes, dünnes Strandkleid aus T-Shirtstoff. Wieder bewunderte Gunter ihre Figur. Noch mehr aber erfreute ihn, ihr Lächeln. Wartest du schon lange? Thomas schüttelte den Kopf. Wohin fahren wir? Ich dachte, wir gehen vielleicht in den Struwwelpeter. Da kann man schön draußen sitzen. Annette nickte. Auf der Fahrt sprachen sie nicht viel miteinander, was daran lag, dass Annette noch irgendwo anrief und mitteilte, dass sie später kommen würde. Ich gehe mit einem Bekannten noch was trinken. Macht euch also keine Sorgen. Deine Eltern? Nein. Eine von meinen Mitbewohnerrinnen. An ihrem Ziel angekommen, setzten sie sich in den Biergarten. Während des Essens und auch später unterhielten sie sich. Es war ein langsames, tastendes sich kennen lernen. Gunter war mehr und mehr von ihr beigeistert. Als sie schließlich aufbrachen, verabredeten sie sich für den Samstag am Baggersee, wenn das Wetter halten würde.
Gunters Beruf ließ ihm nur wenig Zeit, an Annette zu denken, aber wenn seine Gedanken sich mit ihr beschäftigten, ging ein glückliches Lächeln über sein Gesicht. Thomas fragte mehrfach nach, bekam aber keine vernünftige Antwort. Schließlich ließ er es bleiben. Die Woche verging und es wurde Samstag. Gunter wachte früh auf und fuhr an den Baggersee. Jetzt hieß es warten. Aber Gunter wartete vergebens. Auch am Sonntag kam Annette nicht. Gunter war enttäuscht. Am Montag im Geschäft konnte er sich kaum auf seine Arbeit konzentrieren. Er überredete seine Kollegin Michaela, für ihn den Schlussdienst zu übernehmen und fuhr an den Baggersee, aber Annette war nicht da. Sie kam auch nicht. Auch nicht den Rest der Woche. Was hatte er falsch gemacht? Ohne große Hoffnung fuhr er auch am nächsten Samstag an den Baggersee. Später diesmal, aber er konnte es doch nicht lassen, zum Treffpunkt zu gehen. Dort blieb er einen Moment stehen, setzte sich dann hin und stierte ins Wasser. Bin ich froh, dass du da bist. Es tut mir so leid! Annette stand hinter ihm und strahlte. Alles war vergessen. Gunter schoss hoch und schloss sie in seine Arme. Impulsiv, ohne nachzudenken. Und Annette hielt still, so. als hätte sie genau darauf gewartet.