Jeder Mensch hat Träume, oder besser, diesen einen Traum, den er gerne erfüllt sehen würde. Der Traum, der im Unterbewusstsein vor sich hin dümpelt und hin und wieder an die Oberfläche kommt. Dieser eine Traum, der so unerreichbar weit weg erscheint, so unerfüllbar. Er gipfelt in der Hoffnung, ihn irgendwann einmal erleben zu dürfen. Oft sind es nicht die ganz großen Wünsche, die sich in solchen Träumen manifestieren, sondern manchmal nur Kleinigkeiten, die auf Grund der Lebensumstände oder besonderer Situationen unerreichbar erscheinen. Auch ich hatte so einen Traum.
Seit ich denken kann, habe ich eine große Affinität zu Wasser. Ein Urlaub, der nicht am Wasser stattfand, war für mich undenkbar Es gab so gut wie nichts im und auf dem Wasser, was ich nicht tat. In traumhaften Tauchrevieren hatte ich mich aufgehalten und beinahe mehr Zeit unter, als über dem Wasser verbracht. Ich hatte an einem Segeltörn in der Ägäis teilgenommen und an mehr Surfregatten, als ich zählen konnte. In meiner Jugend war ich im Vierer gerudert und noch später hatte ich Paddelwanderungen unternommen. Wie gesagt nichts, aber auch gar nichts hatte ich ausgelassen. Außer eben dieser einen Sache.
Mein Traum war es, mit einem geeigneten Boot hinaus auf den Bodensee zu fahren und dort die Nacht zu verbringen. Über mir den Sternenhimmel und unter mir das Wasser, das mich mit seinen Bewegungen und Geräuschen zum träumen bringen würde. Klingt einfach, nicht? Und doch hatte ich es nie geschafft, mir diesen Traum zu erfüllen. Es war die Zeit, die mir fehlte, die Gelegenheit und vielleicht auch unbewusst die Tatsache, dass wenn man sich seinen ultimativen Traum erfüllt, nichts mehr übrig bleibt, von dem man sehnsuchtsvoll träumen kann.
Dann plötzlich schien es eine Möglichkeit zu geben, diesen Traum zu erfüllen. Ich hatte beruflich in Konstanz zu tun. Als der Termin vorbei war, schlenderte ich über die Seepromenade und kam so zum Yachthafen. Langsam ging ich die Stege entlang und betrachtete mir die Boote. Vor einem Boote namens Calypso, blieb ich stehen. Das Boot gefiel mir. Nicht zu groß und nicht zu klein. Gepflegt und irgendwie ansprechend in seinen Proportionen. Auf dem Vorderdeck stand ein Mann etwa meines Alters an die Reling gelehnt und spleißte ein Tau. Einen Moment sah ich ihm zu. Die Ruhe, die er bei dieser Tätigkeit ausstrahlte, die Fingerfertigkeit, die er bewies, beeindruckte mich sehr. Auch er hatte mich gesehen und nickte mir grüßend zu. Ich erwiderte seinen Gruß. Kann ich was für Sie tun? Fragte er mich, ohne seine Tätigkeit zu unterbrechen. Danke, nein. Ich habe nur Ihr Boot bewundert! Er nickte. Wollen Sie an Bord kommen? Ich zeige Ihnen gerne meine Lady! Ich überlegte kurz. Zeit hatte ich. Danke, gerne, sagte ich und betrat den angelegte Steg. Bevor ich an Bord ging, zog ich meine Schuhe aus. Der Mann kommentierte es nicht. Ich ging auf ihn zu und stellte mich vor. Wolfgang Maurer, erwiderte er meine Vorstellung. Ein schönes Boot haben Sie da. Ja. Die Calypso war mein Traum und ich habe ihn mir erfüllen können. Ruhig spleißte er das Tau zu Ende, wickelte es auf und hängte es an einen Haken. Das Messer wurde zusammengeklappt und kam in die Hosentasche, dann begannen wir den Rundgang über Deck. Unaufdringlich, aber gleichzeitig äußerst informativ, machte er mich mit den technischen Daten des Bootes vertraut. Dann zeigte er mir die Maschine und die anderen Räumlichkeiten unter Deck. Da gab es eine kleine Kombüse, natürlich eine Nasszelle und den großen Raum, der sowohl als Aufenthaltsraum, wie auch als Schlafzimmer diente. Alles machte einen sauberen, wohldurchdachten Eindruck. Dieser Mann hielt seine Calypso wirklich in Schuss.
Wir setzten uns und tranken Kaffee. Maurer konnte gut erzählen. In unserem Gespräch schien er zu erkennen, dass ich auch nicht ganz unbeleckt war. Schließlich bot er mir an, eine kleine Rundfahrt über den See zu machen. Freudig nahm ich an. Als wir aus dem Hafen raus waren, bot er mir an, das Ruder zu übernehmen. Es war ein irres Gefühl, die durch meine Hand gebändigte Kraft des Bootes zu spüren. Weit ließ er mich hinaus fahren, schließlich forderte er mich auf, die Maschine still zu setzen. Er warf einen Treibanker aus, holte zwei Stühle aus der Kammer und baute sie auf dem Vorderdeck auf. Mit einer Hand wies er mich an, Platz zu nehmen. Wir saßen in der Sonne, das Boot schaukelte etwas und drehte sich um den Treibanker. Sofort fiel alles Schwere der letzten Zeit von mir ab. Das mache ich, sooft ich Zeit dazu habe. Hier kann ich loslassen, hier kann ich mich entspannen. Eine Weile herrschte Schweigen zwischen uns. Dann begann er von sich zu erzählen. Er hatte eine kleine Firma für Formgussteile. Die Krise nahm ihn voll in Anspruch. Noch hatte er niemanden entlassen müssen. Die Frage war nur, wie lange es noch so ging. Das Boot ist mein Ruhepol. Hier sammle ich Kraft für meinen Beruf! Wieder herrschte Schweigen. Danach begann ich von mir zu erzählen. Von meinem Beruf, der mich immer auf hohen Touren hielt, von meinem Leben, dass irgendwie gleichförmig verlief und trotzdem aus der Bahn gelaufen war. Und schließlich, ich weiß nicht warum, erzählte ich ihm von meinem Traum. Er ging nicht darauf ein, was ich auch nicht erwartet hatte.
Spät am Nachmittag fuhren wir wieder zurück. Wollen wir gemeinsam zu Abend essen? Fragte er mich, als er das Boot wieder festgemacht hatte. Gerne! wir verabredeten uns für 19.00 Uhr vor dem Büro des Hafenmeisters. Maurer führte mich in ein kleines Lokal in der Nähe des Yachthafens. Man sah sofort, dass es primär von den Bootleuten besucht wurde. Die Dekoration war unauffällig passend. Es war gemütlich und wenig aufdringlich. Die Speisekarte reichhaltig. Wir setzten unserer Unterhaltung vom Nachmittag fort. Dann, plötzlich, wir tranken gerade unseren Espresso sagte er, es ist also dein Traum, eine Nacht auf dem Bodensee zu verbringen. Kannst du haben. Wenn du willst kannst du die Calypso für ein Wochenende bekommen. Dabei sah er mich an. Wirklich? Fragte ich ungläubig. Du kennst mich doch kaum! Stimmt, aber ich vertraue dir.! Danke, war alles, was ich vorerst sagen konnte. Als wir aufbrachen, gab er mir seine Karte. Ruf mich an, wenn du es dir überlegt hast! Auf der Fahrt nach Hause ging mir durch den Kopf, dass die Erfüllung meines größten Traumes, zum ersten Mal in meinem Leben in greifbarer Nähe war. Zuhause angekommen, begann ich unwillkürlich mit der Planung. Am nächsten Morgen rief ich Wolfgang an. Wenn es dir immer noch ernst ist, am übernächsten Wochenende, hätte ich Zeit. Geht in Ordnung! Melde dich noch einmal ein paar Tage vorher! Das war alles, was er dazu sagte.
Viel Vorbereitung brauchte ich nicht und so blieb mir nur die ungeduldige Vorfreude auf die Erfüllung meines lang gehegten Traumes. Die Zeit wurde mir lang. Hoffentlich hielt das Wetter.
Mittwochs bevor es losgehen sollte, traf ich mich mit Uschi. Uschi war meine Freundin aus Kindertagen. Wir kannten uns, seitdem uns unsere Mütter gemeinsam in die Sandkiste gesetzt hatten. Meist verstanden wir uns gut, aber wenn wir Zoff hatten, flogen die Fetzen. Ich schmierte ihr Sand und Matsch in die blonden Locken und sie biss und kratze mich. Es ging damals manchmal schon gut zur Sache. Aber die Freundschaft hielt. Ich bewunderte Uschi ziemlich. Uschi konnte schneller auf einen Baum klettern, als jeder Junge in meine Clique. Sie war selten zickig und meist für jeden Spaß zu haben. Uschi war wie dafür geschaffen, die beste Freundin eines Jungen zu sein. Meine beste Freundin. Denn nie sah ich in Uschi das Mädchen. Uschi war schon immer da gewesen. Sie war einfach mein Kumpel, dem ich grenzenlos vertraute. Und ihr ging es genauso. Natürlich gingen wir unterschiedliche Lebenswege, natürlich gab es Zeiten, in denen wir uns nicht so oft trafen, doch in den letzten Jahren waren wir uns wieder näher gekommen. Ein- oder zweimal im Monat trafen wir uns. Wir gingen etwas trinken und quatschten. Über alles Mögliche. Am Ende des Abends verabschiedeten wir uns von einander und jeder ging zurück in sein eigenes Leben.
Als wir uns an diesem Abend trafen, erzählte ich ihr irgendwann davon, dass mein Traum in Erfüllung gehen würde. Sie freute sich für mich und mit mir. Ich beschreib ihr das Boot und wie ich Wolfgang kennen gelernt hatte und sie spürte meine Begeisterung, die sie mit mir teilte. Ich beneide dich darum! Lachend antwortete ich ihr, dann komm doch mit! Auch sie lachte, wurde dann aber plötzlich ernst. Würdest du mich wirklich mitnehmen? Ich dachte, du wolltest es genießen, alleine auf dem See zu sein? Im Prinzip ja, aber du wärst der einzige Mensch, der mich nicht stören würde. Uschi sah mich nur an, sagte aber nichts. Wir unterhielten uns weiter, tranken noch etwas und brachen schließlich auf. Uschi war einsilbig geworden. Was hatte sie nur? Am nächsten Tag rief ich sie an, weil ich etwas wissen wollte und vergessen hatte, sie abends zu fragen. Als das geklärt war, spürte ich förmlich, dass sie noch etwas sagen wollte. Was ist denn? fragte ich sie. Ich würde wirklich gerne mitkommen! Sagte sie leise. Na dann komm doch mit. Aber ich fahre schon am Freitag Mittag los. So gegen 15.00 Uhr. Geht das bei dir? Natürlich! Gut. Ich hole dich dann pünktlich um drei ab. Das Gespräch war zu Ende. Was machte sie nur für ein Aufhebens um diese Geschichte? Es war doch nicht das erste mal, dass wir ein Wochenende gemeinsam verbrachten? Bei mancher Städtereise hatten wir sogar das Zimmer geteilt. Nie war etwas passiert. Und das würde es am Wochenende auch nicht.