Es ist schon seltsam, wie das menschliche Gehirn funktioniert. Manche Dinge, so nah sie auch erscheinen mögen, vergisst es ziemlich schnell. Wie um Platz zu schaffen für die wichtigen, essentiellen Geschehnisse. So sehr man sich auch anstrengt zu vergessen, so präsent sind diese Ereignisse, wenn die Konditionierung mit einer Situation einhakt. Genauso ging es mir. Immer wieder drängte sich die Szene vom Strand auf Raymond Island in mir auf. Endlich Urlaub, endlich Entspannung und viel Zeit mit der Familie. Dort, bei unserem Abendspaziergang, fand es meine Frau für richtig mir mitzuteilen, dass sie sich von mir trennen wollte. Ein neuer Mann war in ihr Leben getreten.
Das Bild erstarrte vor meinen Augen. Die sanften Wellen des Meeres, der leichte Wind in den wenigen Palmen, die tiefstehende Sonne und der Geruch nach Sand, Meer und Diesel. Boote wiegten sich in der Dünung. Das alles sah ich und sah es doch nicht. Ich glaubte, nicht richtig zu hören, aber meine Frau blieb dabei. Sie würde ausziehen, sie würde sich von mir trennen. Eiseskälte nahm von meinem Körper Besitz, mir wurde schwindelig. Mit Mühe fing ich mich wieder. Warum? Fragte ich mit belegter Stimme. Die Antwort war grausam in ihrer Kürze und Eindeutigkeit. Weil ich dich nicht mehr liebe! Mehr gab es dazu nicht zu sagen. Alle meine Argumente zerschellten an ihrer unnachgiebigen Haltung, ihren Gefühlen. Weil ich dich nicht mehr liebe! Dieser Satz bestimmte die restlichen Tage unseres Urlaubs, bestimmten den Rückflug und die Heimkehr.
Als wir einige Tage später mit unserer dreizehnjährigen Tochter Melanie darüber sprachen, flossen die Tränen reichlich. Nicht nur bei Melanie. Komisch, früher hatten mich die Tränen meiner Frau berührt, verlegen gemacht, hatte Beschützerinstinkte in mir wach gerufen. Damals war es anders. Ich hasste sie für ihre Tränen, für das Schauspiel, dass sie hier abzog. Denn es war ihre Entscheidung, unsere Familie auseinander zu reißen. Ich wollte sie nicht gehen lassen. Und ich wollte Melanie nicht gehen lassen. Ich hing an meiner Tochter, auch wenn ich wenig Zeit für sie hatte. Aber es war nicht mehr zu ändern. Meine Frau blieb hart, suchte sich eine Wohnung und zog mit Melanie aus, als ich für einige Tage zu einer Tagung nach Hamburg gefahren war. Als ich wieder kam, sah ich mich mit einer leeren Wohnung und einem genauso leeren Wochenende konfrontiert. Leere Wohnung heißt nicht, dass sie die Möbel mitgenommen hätte. Nein, es war nur kein Lebewesen mehr da. Ein Wohnungsschlüssel lag auf dem Tisch. Daneben ein Zettel mit Adresse und Telefonnummer.
Die erste Zeit war merkwürdig. So als hätte ich es noch nicht begriffen, so, als würde sie jeden Moment vom einkaufen zur Tür herein kommen. Oder Melanie vom Ballett. Aber es kam niemand. Nie! Oder halt, ab und zu besuchte mich Melanie, aber diese Besuche blieben merkwürdig distanziert. Ich erfuhr nichts von ihr, es sei denn ich fragte sie direkt. Und selbst dann gab sie, es sei denn es ging um die Schule, nur ausweichende Antworten. Nein, ich war nicht wirklich glücklich. Die langen Abende alleine, in denen ich nicht wusste, was ich tun sollte, die Wochenenden, die sich im Gegensatz zu früher endlos dehnten und die Stille, die in den Räumen herrschte, setzte mir zu. Was war nur aus mir geworden? Manchmal, wenn ich in Gedanken versunken in meinem Sessel saß und Löcher in die Luft starrte, kam Klarheit in mein Denken. Ich war ein verbitterter, einsamer Mann von fünfzig Jahren geworden, der an nichts mehr Freude empfand und sich hängen ließ. Meine sozialen Kontakte waren komplett weggebrochen, denn unsere gemeinsamen Freunde, hatten sich sozusagen auf ihre Seite geschlagen.
Ich vermisste meine Familie. Klar, mit dem Haushalt kam ich zurecht. Waschen und Bügeln war kein Problem. Kochen? Für mich reichte es. Außerdem hatte ich kaum Lust zum Essen. Und Sex? Den vermisste ich nun gar nicht. Ich verschwendete kaum einen Gedanken daran. Einzig meine Eltern und Geschwister, meldeten sich bei mir, um besorgt nachzufragen, wie es mir denn so ginge. Rührend war, wie meine Schwester Maria mich bei jeder sich bietenden Gelegenheit irgendwelchen Frauen vorstellte und gebannt beobachtete, ob ich darauf ansprang. Sorry, es ging nicht. Ich hatte einfach keine Lust. Auch mein Bruder sprach von einer Kollegin, die ich unbedingt einmal kennen lernen sollte. Warum begriff es niemand, dass ich keine neue Frau, sondern meine zurück haben wollte.
Der erste wirklich schlimme Tag kam, als Melanie Geburtstag hatte. Ich wollte mir frei nehmen, sie von der Schule abholen, schön mit ihr essen gehen und sie dann durch die Einkaufszentren schleifen. Sie sollte sich etwas Schönes aussuchen. Dann wollte ich mit ihr nach Hause gehen und ihr das Geschenk geben, dass ich schon vor Wochen für sie gekauft hatte. Aber es kam anders. Tut mir leid, ich habe keine Zeit. Wenn ich von der Schule komme, muss ich Mama helfen, das Fest vorzubereiten. Ihr feiert? Wer kommt denn? Melanie zählte die Namen auf. Alle würden sie kommen. Alle unsere Freunde, so, als sei nichts geschehen. Nur ich würde nicht dabei sein. Ich kann ja mal auf einen Sprung zu dir rüber kommen! Auf einen Sprung, hatte sie gesagt. Mein süßes Mädchen, kam an ihrem Geburtstag auf einen Sprung bei ihrem Papa vorbei. Mir war zum heulen. Tatsächlich kam sie an ihrem Geburtstag gegen 15.00 Uhr. Sie freute sich über ihr Geschenk und fiel mir um den Hals. Um 15,30 Uhr war ich wieder alleine. Schlimmer hätte es nicht kommen können.
Nach und nach gewöhnte ich mich an mein neues Leben. Es bestand aus Arbeit und schlafen. Nur langsam nahm ich wieder andere Aktivitäten auf. Seit Jahren ging ich mal wieder zum Fußball. Dort, in der grölenden Menge, war man wenigstens nicht alleine, auch wenn man niemanden kannte. Mit der Zeit ließ auch der Schockzustand nach. Wenig zwar, aber immerhin. Der Winter kam und ging, ohne dass ich ihn richtig wahrnahm. Nach Weihnachten nahm ich mir ein paar Tage frei und flüchtete in die Berge. Die körperliche Anstrengung, die Tage an der frischen Luft, machten mich müde und endlich konnte ich mal wieder durchschlafen. Wieder zurück, ertappte ich mich dabei, Pläne für den Sommer zu machen. Ich wollte mit Melanie irgendwo in den Süden fliegen. Zwar gab es noch ein hin und her mit meiner Frau, bis wir uns schließlich auf Termine geeinigt hatten, dann aber war es soweit. Der Urlaub brachte Melanie und mich wieder etwas näher zusammen. Wir redeten ziemlich viel. Und ich lernte sie mit anderen Augen sehen. Aus meinem Mädchen war eine attraktive, junge Frau geworden, die die Blicke der männlichen Jugend auf sich zog. Lange würde es wohl nicht mehr gehen. Auch das versetzte mir einen Stich. Und es lenkte meine Gedanken in eine andere, für mich verblüffende Richtung. Wie würde ich auf Frauen wirken? Viel Illusionen machte ich mir nicht. Groß war ich ja, aber auch ein bisschen unförmig, korpulent könnte man sagen. Sportlich war ich auch nicht und die grauen Haare auf meinem Kopf hatte, den Kampf gegen meine natürliche Haarfarbe schon lange gewonnen. Nein, eine Frau würde ich so nicht mehr bekommen. Wollte ich das überhaupt? Noch vor ein paar Wochen hätte ich diese Frage mit eine kategorischen Nein beantwortet. Jetzt war ich mir nicht mehr so sicher.
Als ich später alleine in meinem Zimmer war, zog ich mich aus und stellte mich vor den großen Spiegel. Ich unterwarf mich einer kritischen Betrachtung. Breit, nicht mehr allzu straffe Haut, einen Bauch und knorrige, haarige Beine. Und dazwischen? Nun, ein Adonis war ich nie gewesen. Ich hatte nie einen großen Schwanz gehabt. Sicher, wenn er stand, erfüllte er seinen Zweck, aber eine Augenweide war er nicht. War auch nicht unbedingt nötig gewesen. Noch während meiner Jugend hatte ich gelernt, dass Mädchen auch anders, zufrieden zu stellen sind. Mit meinen Fingern und vor allen Dingen mit meiner Zunge hatte ich mehr erreicht, als mit meiner Lanze. Selbst meine Frau hatte diese Art des Liebesspiels genossen und gerne darauf zurück gegriffen. Einmal hatte sie sogar gesagt, dass man es eigentlich jeder jungen Frau wünschen sollte, einmal von mir auf diese Art zum Höhepunkt zu kommen. Ich hatte damals gelacht und es weit von mir gewiesen. Diese Künste sind nur noch für dich reserviert! Und sofort hatte ich mich wieder um sie bemüht. Aus und vorbei.
Genau wie unser Urlaub. Der Alltag hatte mich wieder und damit auch meine Sorgen. Allerdings ertappte ich mich dabei, wie ich den jungen Mädchen hinterher sah. Den jungen Mädchen, die so aufregend gekleidet durch die Straßen flanierten. Den jungen Mädchen, die so süß aussahen. Insgeheim ertappte ich mich bei dem Gedanken, wie sie am Abend in die Arme ihres Freundes sinken würden und die Freuden erfüllter Sexualität erlebten. Aber taten sie das wirklich? Ich meine, bestimmt hatten sie Sex mit ihren Freunden und bestimmt fühlten sie sich glücklich. Aber waren sie es auch wirklich? Waren sie nur deshalb glücklich und zufrieden, weil sie es nicht anders kannten? Welches dieser Mädchen hatte es schon einmal erlebt, als absolute Hauptperson im Mittelpunkt der Bemühungen eines erfahrenen Mannes zu stehen? Eines Mannes, der sich selbst bewusst zurück nahm, der warten konnte und seiner Partnerin zeigte, wie es ist, wenn nur sie zählt? Ich bezweifelte es!