Ich habe schon deutlich besser gegessen. Das Essen war pappig und fett. Ich stocherte nur darin herum und lauscht ergeben den Ergüssen Martins. Hin und wieder sah ich mich um. Und bei einem dieser Rundblicke entdeckte ich sie dann. Gar nicht weit von uns entfernt, hatte sie sich alleine an einen kleinen Tisch gesetzt, gabelte in einem Fruchtsalat herum und blätterte in einem Hefter. Martin folgte meinem Blick, sah, was ich sah und drehte sich mit einem Lächeln wieder zu mir um. Gefällt sie dir? Was meinst du eigentlich? Erzähl mir nichts. Ich weiß genau, wie es dir heute ergangen ist. Ich muss mich auch jedes Mal neu motivieren, um meinen Unterricht durchziehen zu können. Sind schon verdammt hübsch, die Mädels und sie wissen ganz genau, wie sie auf Männer wirken. Oft genug, versuchen sie das auszunutzen. So ein Augenaufschlag mit schräg gehaltenem Kopf kann schon auch mal einen Bischof dazu bringen, seine bunten Kirchenfenster einzutreten und den Zölibat in Frage zu stellen. Wieder drehte er sich um und schaute nach dem Mädchen, dass, völlig in seine Lektüre versunken, geistesabwesend hin und wieder eine Gabel Fruchtsalat in den Mund schob. Jetzt folgte ich seinem Blick und versank in diesem schönen Bild. Martin hatte sich mir wieder zu gewandt. Nur mit Mühe riss ich mich von dem Anblick los und konzentrierte mich auf ihn. Hanna. Süße neunzehn Jahre alt. Tochter einer alleinerziehenden Verkäuferin. Blitzgescheit, sehr fleißig und immer etwas zurück haltend. Beteiligt sich nie an irgendwelchen Freizeitaktionen. Ist lieber für sich alleine und bildet sich fort. Neulich, als ich mit meiner Frau bei der Degas-Ausstellung war, habe ich sie dort entdeckt. Natürlich alleine und in den Anblick eines Bildes versunken. Sie ist schon was Besonderes. Sie ist bestimmt die natürlichste von all diesen Mädels und nach meiner Meinung auch die hübscheste. Das Schönste aber ist, dass sie das überhaupt nicht weiß! Martin lachte.
Mir fiel dazu nichts ein. Martin hatte alles gesagt. Er lud mich für den Abend zu sich nach Hause ein, aber ich lehnte ab. Diesen Abend wollte ich für mich haben. Ich wusste zwar noch nicht was ich tun würde, aber ich würde es mit Sicherheit alleine tun. Es wurde Zeit für mich, zu gehen.
Gemütlich machte ich mich auf den Weg zum Tagungshotel. Da ich zu früh war, nahm ich mir einen Kaffee und blätterte durch eine Zeitung. In einer Stadt in der näheren Umgebung, genau genommen in der Stadt, in er ich studiert hatte, sollte am Abend eine Vorstellung eines kleinen Boulevardtheaters sein. Mickey und Einstein hieß die Komödie und ich kannte sie. Vor Jahren hatte ich sie in eben diesem Theater gesehen. Da würde ich gerne hin gehen. Ich nahm das Handy und fragte an, ob sie eine telefonische Vorbestellung akzeptieren würden. Sie taten es. Ziemlich beschwingt und voller Vorfreude auf den Abend, machte ich mich auf, um an der Tagung teilzunehmen. Allerdings war ich ziemlich unkonzentriert. Ich betrachtete die Rednerin die einen Vortrag über die Bankenkrise hielt. Unvermittelt kam mir Hanna in den Sinn. Welch ein Unterschied. Hanna, dieses ernste und doch mit einer so positiven Ausstrahlung versehene Mädchen und dann dieses Wesen, das sich bemühte in einer Männerwelt akzeptiert zu werden und deshalb seine Weiblichkeit bis zur Unkenntlichkeit verleugnete. Sicher, zwischen den Beiden lagen bestimmt 30 Jahre Altersunterschied, aber das war nicht der Grund für die unterschiedliche Wirkung. Man konnte nur hoffen, dass sich Hanna nicht in diese Richtung entwickeln würde. Aber was ging es mich an?
Wieder war ein Arbeitstag zu Ende. Ich fuhr in mein Hotel, duschte und zog mich um. Dann fuhr ich zu meinem Abendvergnügen. Mit dem Wochenendverkehr hatte ich leider nicht gerechnet, auch nicht damit, dass sich die Parkplatzsuche auf Grund eines Festes als schwierig erweisen würde. Ich erreichte das Theater pünktlich, aber nur knapp. Es hatte schon zum zweite Mal geklingelt, die Reihen waren gut besetzt. Ich mogelte mich durch und setzte mich tief aufatmend hin. Im selben Moment ging das Licht aus und das Spiel begann. Ich wurde nicht enttäuscht. Das Stück war frisch inszeniert und immer wieder brandete ein Lachen durch den Zuschauerraum. Oft so stark, dass die Akteure die dadurch entstehenden Pausen irgendwie überspielen mussten, was wieder zu einer ganzen Reihe von ausgelassenen Lachern führte. Ende des zweiten Aktes und Pause. Das Licht ging an und alle erhoben sich. Man war auf dem Weg ins Foyer. Und wer stand plötzlich in der Reihe vor mir auf? Hanna! Beide sahen wir uns überrascht an. Dann senkte sie grüßend den Blick, drehte sich um und ging nach draußen. Wieder schaute ich ihr nach. Im Foyer ließ ich mir ein Wasser geben und schaute mich nach ihr um, aber ich konnte sie leider nicht entdecken. Schade eigentlich. Die Pause war vorbei und das Stück ging weiter. Jetzt, da ich wusste, dass Hanna direkt vor mir saß, war ich doch ein wenig unaufmerksamer. Schade, dass sie nicht neben mir saß. Trotzdem merkte ich, dass sich Hanna immer wieder bewegte, als wollte sie nach hinten schauen. Aber sie unterließ es.
Nach Ende des Stücks, sah ich sie dann wieder. Sie stand im Foyer vor einem ausgehängten Fahrplan. Eine Gelegenheit, sie anzusprechen. Sind Sie nicht mit dem Auto da? Sie erschrak, da sie mich nicht hatte kommen sehen. Nein! Ich hörte das erste Mal ihre Stimme.
Wo müssen Sie denn hin? Zögerlich nannte sie den Namen der Stadt. Habe ich mir gedacht. Da muss ich auch hin. Soll ich Sie mitnehmen? Wieder zögerte Sie, warf noch einmal einen Blick auf den Plan und antwortete dann. Wenn es Ihnen nichts ausmacht. Mein Zug fährt erst in einer Stunde! Gemeinsam gingen wir zum Auto. Ohne zu reden. Ganz offensichtlich war ihr nicht sehr wohl dabei. Ich fragte sie nach ihrer Adresse und gab die dann in das Navi ein. Schweigend fuhren wir durch die große Stadt, schweigend erreichten wir die Autobahn. Die einzige Stimme, die hin und wieder zu hören war, war die Stimme des Navi, dass mir die Richtung wies. Als wir endlich unser Ziel erreicht hatten, sagte ich, nur um die Stille zu durchbrechen, in diesem Hotel wohne ich! Sie können mich hier raus lassen. Es sind jetzt nur noch ein paar Meter! Um sie nicht zu verunsichern, fuhr ich auf den Hotelparkplatz. Wir steigen aus und gemeinsam gingen wir in Richtung Straße. Vor dem Eingang des Hotels, blieben wir stehen. Ich würde sie gerne noch auf einen Drink einladen, um den schönen Abend zu beschließen, aber Sie wollen sicherlich gerne nach Hause. Sie sah mich an. Eigentlich schon, aber eine Cola würde ich schon gerne trinken. Ich habe Durst. Gerne! Freute ich mich und führte sie in die Bar.
Gedämpftes Licht, leise Barmusik und leichtes Gemurmel der Gäste. Eine heimelige Atmosphäre, in der sie langsam auftaute. Sehr langsam. Nur zögerlich begann sie von sich zu erzählen und ich hörte ihr zu. Sie erzählte mir von ihren Zukunftsplänen, von ihren Wünschen und Hoffnungen. Dann begann sie Fragen zu stellen. Fragen über den Vortrag des Vormittags. Manche ihrer Fragen brachten mich ganz schön ins Schwitzen. Mehr als einmal musste ich nachdenken, um ihr alles richtig zu erklären. Sie hatte eine unheimlich gute Auffassungsgabe. Plötzlich und unvermittelt begann sie mich auszufragen. Natürlich der Beruf, mein Werdegang, aber nach und nach doch auch mehr ins private gehend. Meine Vorlieben, mein Leben außerhalb des Berufs. Dann begann sie wieder von sich zu erzählen. Wie sich ihr Leben außerhalb der Schule gestaltete. Ich gewann den Eindruck, dass sie ziemlich einsam war. Wir redeten und redeten. Ich fühlte mich unheimlich wohl in der Gesellschaft dieser jungen Frau.
Nachdem wir unsere ersten Getränke geleert hatten, überredete ich Hanna dazu, einen Cocktail mit mir zu trinken. Es schien mir einfach besser zu passen. Vielleicht war es nicht meine beste Idee, denn der Alkohol bewirkte bei mir, dass ich gelöster wurde. Alle Anspannung fiel von mir ab und bei Hanna bemerkte ich den gleichen Effekt. Vielleicht lag es daran, dass ich sie, als wir Stunden später aufbrachen, in der Lobby fragte, ob sie mit mir ins Zimmer gehen würde. In dem Moment, in dem ich es sagte, kam mir auch schon die Unmöglichkeit der Situation in den Sinn. Hanna sah mich nur an. Entschuldigen Sie, das ist mir nur so heraus gerutscht. Eine blöde Ausrede. Klar, hätte ich sie gerne mit nach oben genommen, aber genau so klar war, dass sie davon nur abgeschreckt würde. Das war keine abgeklärte Frau aus meinen Kreisen, das war, wenn auch volljährig, ein Schulmädchen. Meine Frage musste sie schockiert haben. Hanna sah mich unvermindert an. Warum soll ich mit nach oben kommen? Fragte sie leise. Vergessen Sie es. Wie gesagt, es war dumm von mir, sie das zu fragen! Nein, sagen Sie mir, warum Sie wollen, dass ich mit Ihnen auf Ihr Zimmer gehe. Ich musste den Mut, die Gefasstheit dieser jungen Frau bewundern. Können Sie sich das nicht denken? Als ich Sie heute Morgen das erste Mal gesehen habe, war ich von ihrer Schönheit gefangen. Der heutige Abend hat mir noch eine weitere Facette ihrer Person vor Augen geführt. Sie sind nicht nur schön, sondern auch noch hoch intelligent. Ich mag solche Menschen, sie faszinieren mich. Sie wollen also weiter mit mir reden? Das kam ohne Vorwurf, eher wie eine Feststellung. Nicht nur. Herr Gott noch mal, sie können sich doch vorstellen, dass ich nicht nur reden will! Hanna nickte. Was würden Sie von mir halten, wenn ich mit Ihnen ginge? Auf jeden Fall nichts Schlechtes. Ich würde denken, dass es Ihnen geht wie mir. Dass sie alleine sind und dieser Einsamkeit vielleicht entfliehen möchten. Hanna sah mich unverwandt an. Sie würden nicht glauben, dass das eine Masche von mir ist, dass ich mit jedem Mann mitgehe? Dafür sind sie nicht der Typ. Wie gesagt, ich bereue es, sie das gefragt zu haben. Bitte entschuldigen Sie! Hanna nickte leicht. Dann setzte sie sich in Bewegung. Aber nicht in Richtung Ausgang, sondern in Richtung Fahrstuhl. Ich folgte ihr..