Wenn ich heute auf diese schöne Zeit zurück blicke, überkommt mich eine gewisse Wehmut. Nicht, dass es heute nicht auch noch schön wäre, aber der Reiz des Neuen, der Überschwang der ersten Zeit ist doch langsam einer Ernüchterung und einer gewissen Routine gewichen. Mein Name ist Tanja Winter. Ich bin 28 Jahre alt und arbeite im Projektmanagement einer großen Versicherung als Controllerin. Oh wie langweilig, höre ich schon den einen oder anderen sagen. Nichts als Zahlen, trocken und spröde! Mag ja sein. Mir jedenfalls gefällt mein Job. Ich finde ihn abwechslungsreich und interessant. Doch, ich gehe gerne arbeiten.
Vielleicht war damals mein großes Engagement für den Beruf auch eine Flucht aus meinem Privatleben. Denn so gut es im Job auch lief, privat sah ich überhaupt kein Land. Aufgewachsen war ich wohlbehütet durch meine Eltern und mein Umfeld in einem kleinen Ort. Sie kennen diese Städte? Jeder kennt im Prinzip jeden und man läuft sich dauernd über den Weg. Das hat seine Vorteile, aber natürlich auch seine Nachteile. Ein Vorteil ist, dass man in den meisten Fällen niemand etwas erklären muss. Man kommt in die Bank und hat seine Karte vergessen. Kein Problem, die freundliche Dame in der Kasse kennt dich und du musst nicht unverrichteter Dinge wieder abziehen. Der Nachteil, wenn du dich heimlich mit einem Jungen das erste mal treffen willst, läuft dir sicher jemand über den Weg, der dich kennt und einen Tag später weiß es die ganze Stadt: Hast du schon gehört? Die Tanja vom Winter Gerhard, treibt sich mit dem Maier seinem Großen rum. Dem Marcus. Also ich finde, die sollte auch mehr auf sich achten! Wie gesagt, jede Medaille hat ihre zwei Seiten.
Trotzdem hatte ich eine schöne Kindheit. Klar, in der Pubertät wurde es schwieriger. Das lag zum Teil auch an meiner Erziehung. Konservativ, konservativer, am konservativsten. Es ist, zumindest im Zusammenhang mit mir, kein Witz, dass ich, bis ich 14 war, immer noch dachte, man könne von einem Kuss Schwanger werden. Und, auch wenn es kaum zu glauben ist, als ich endlich mein Abitur in der Tasche hatte und in die große weite Welt zum studieren gehen sollte, ich immer noch Jungfrau war. An Versuchen meiner wechselnden männlichen Begleiter, diesen Zustand zu ändern, hatte es nicht gefehlt. Nur meine mangelnde Kooperationsbereitschaft in dieser Sache, hatte jeden Versuch scheitern lassen.
Meine Eltern besorgten mir eine kleine Wohnung in meiner Studienstadt. Dort fühlte ich mich ziemlich wohl, wenn ich auch einsam war. Meine Familie fehlte mir mehr, als ich es zugeben wollte und Freunde hatte ich so gut wie keine. Das änderte sich zwar nach und nach, aber trotzdem hatte ich nicht viel Ablenkung vom Studium. Vermehrt traten jetzt allerdings die Jungs in mein Leben und ich wechselte meine Freunde recht häufig. Auch hier war meine Jungfräulichkeit der Grund. Die Jungs wollten mehr, als nur gute Kameradschaft und ein bisschen fummeln. Aber ich war dazu nicht bereit. Noch nicht! Das änderte sich, als ich Johannes kennen lernte. Der war ähnlich gestrickt wie ich. Eher schüchtern, zurückhaltend und fast schon schreckhaft. Wir trafen uns in der Bibliothek. Einmal, zweimal, immer wieder. Irgendwann verabredeten wir uns für die Mensa, dann zum Lernen und schließlich ins Kino. Wir gingen lange miteinander aus, ohne zu merken, dass wir miteinander gingen. Und ewig lange dauerte es, bis ich seinen ersten scheuen Kuss bekam. Irgendwann war ich diejenige, die den ersten Schritt in Richtung Entjungferung machte. Es geschah in meiner Wohnung. Ich habe ihn regelrecht verführt. Das gewünschte Ergebnis stellte sich ein. Ich war keine Jungfrau mehr. Mehr aber ereignete sich nicht. Ich empfand nichts dabei. Danach haben wir noch ein paar Mal miteinander geschlafen, aber ich fühlte immer noch nichts.
Das änderte sich erst, als Johannes und ich uns trennten und kurz danach die Mediziner ihren berühmten Ball feierten. Irgendwie geriet ich an eine Gruppe, in der ein Jonas das große Wort führte. Jonas schaffte es, mich noch an diesem Abend, in sein Bett zu zaubern. Wir lagen nebeneinander und so, wie ich es gewohnt war, machte ich die Beine auseinander und wartete darauf, dass er mich befingern und schließlich nehmen würde. Aber trotz seines Getues, war Jonas zurückhaltend und einfühlsam. Er streichelte mich lange und ausdauernd und schließlich sorgte er mit seinen Fingern dafür, dass ich den ersten Orgasmus meines Lebens bekam. Er muss es wohl in meinem Blick gesehen haben, wie überrascht ich ob dieser Tatsache war. Auch dass meine Versuche ihm Lust zu verschaffen, mehr als unbeholfen waren, konnte ihm nicht entgangen sein. Das größte Indiz für meine Unerfahrenheit aber war, dass ich, als er schließlich in mich eindrang, einfach nur liegen blieb und es geschehen ließ. Ich rechne es ihm noch heute hoch an, dass er, sehr einfühlsam und geschickt fragend, aus mir herausbekam, wie mein bisheriges Sexualleben verlaufen war. Er lachte mich nicht aus, sondern nahm mich sozusagen in die Lehre. Erst bei ihm lernte ich meinen Körper und seine Reaktionen kennen, er lehrte mich auch meine Wünsche zu äußern und er brachte mir bei, wie man einen Mann behandeln sollte. Als es dann schließlich auch mit uns vorbei war, hatte ich ein unverkrampftes Verhältnis zu meinem Körper und zu meiner Sexualität. Das heißt aber nicht, dass ich nun wahllos mit jedem ins Bett ging. Nein, an meiner Grundeinstellung änderte sich nichts. Nur genoss ich nun die Momente, wenn ich mit einem Mann das Bett teilte und ich war Frau genug es zu sagen, wenn mir etwas nicht gefiel, oder fehlte.
Dann war mein Studium abgeschlossen und ich zog hier her, um meine Stelle als Controllerin anzutreten. Zwei Jahre ist das jetzt her und ich fühle mich hier wohl. Natürlich hatte ich am Anfang meine Probleme. Die Stadt war noch größer und soziale Kontakte hatte ich keine. Das änderte sich aber nach und nach. Schließlich hatte ich einen kleinen, aber feinen Freundeskreis beiderlei Geschlechts um mich gesammelt. Langeweile kam in meinem leben nicht auf. Immer war ich verplant, immer gab es was zu tun. Wir feierten Partys, gingen zu Veranstaltungen, oder auch schon mal ins Theater. Ich war nahe daran, mich zu etablieren. Eigentlich hatte ich alles. Fast alles! Ich hatte nichts fürs Herz. Nun weiß ich, dass man so etwas nicht erzwingen kann, aber trotzdem gab es genug Momente, in denen mich der Kummer über meine gefühlte Einsamkeit und Leere übermannte. Dann saß ich stundenlang am Fenster in meiner kleinen Wohnung, starrte mit tränenblinden Augen geradeaus und pflegte meinen Kummer. Hatte ich so eine kleine Krise überwunden, stürzte ich mich hin und wieder in ein Abenteuer. Ich warf meine Grundsätze über Bord und flüchtete mich in die Arme eines Mannes. Aber bei solchen Gelegenheiten ging es mir wie mit dem Alkohol. Im Augenblick des Genusses, war alles wunderbar und man dachte nicht an den Kater am nächsten Morgen. Der aber kam unweigerlich immer. So war ich eigentlich nicht unglücklich, aber glücklich war ich auch nicht.
Dann trat eine Veränderung in meinem Leben ein. Nicht plötzlich, sondern schleichend. Es waren so Kleinigkeiten, die man nicht bewusst wahrnahm. In einer Sitzung hatte ich mit bedauern zugeben müssen, dass ich ein bestimmtes Diagramm nicht finden konnte. Ich war sicher, dass es da war, aber ich fand es einfach nicht. Am nächsten Morgen lag ein Zettel auf meinem Tisch. Es stand nur ein Link darauf. Ein gedrucktes Blatt, dass keinen Rückschluss auf den Absender zuließ. Ich gab den Link ein und siehe da, das Diagramm entfaltete sich vor meinen Augen. Ich hätte mich gerne bedankt, wusste aber nicht bei wem. Eine Befragung bei den Kollegen in meiner nächsten Umgebung und bei den Teilnehmern der Sitzung ergab nur Achselzucken. An einem anderen Tag lag plötzlich ein Müsliriegel meiner Lieblingssorte auf meinem Schreibtisch, als ich mein Büro betrat. Dann wiederum fand ich einen ausgedruckten Zettel, auf dem nur stand: Ich wünsche Ihnen einen schönen, erfolgreichen Tag! Keine Unterschrift! Beinahe jeden Tag fand ich eine kleine Überraschung und war es auch nur ein ausgedruckter Artikel über meine Lieblingsband, oder der Hinweis auf eine Veranstaltung. Der Mensch, der das für mich machte, musste mich wirklich gut kennen. Aber wer war er, oder sie? Ich wusste es nicht.
Dann eines Morgens, es war ein Montag, fand ich einen kleinen Blumenstrauß in einer niedlichen Vase auf meinem Schreibtisch. Das wiederholte sich nun Woche für Woche, ohne dass ich je darauf gekommen wäre, wer der edle Spender war. Manchmal fand ich auf meinem Schreibtisch wieder kleine Zettel, ausgedruckt versteht sich, auf denen mir ein schönes Wochenende, oder schon auch Mal viel Glück beim Zahnarztbesuch gewünscht wurde. So konnte das nicht weiter gehen. An einem Freitagabend, hinterließ ich nun selbst einen Zettel unter der leeren Blumenvase. Ich bedankte mich für die Wohltaten und die Freude, die sie mir bedeuteten, äußerte aber den Wunsch, meinen Dank auch einmal persönlich äußern zu dürfen. Der Erfolg stellte sich auch prompt ein. Zwar fand ich am nächsten Montag wieder frische Blumen vor, aber die ganze Woche keinen Zettel oder sonst etwas. Am darauffolgenden Montag blieben auch die Blumen aus. Ich hatte meinen Wohltäter vertrieben. Nach einiger Zeit begann das Spiel von Neuem. Jetzt beschloss ich es anders anzufangen. Am nächsten Montag war ich bereits um 06.00 Uhr im Büro. Ich war die Erste. Im ganzen Bereich war kein Mensch. Nur auf meinem Schreibtisch stand ein Blumenstrauß.