Urlaub
Nein, Silke und ich waren nicht geistig gestört. Wir führten uns nur so auf.
Seit unserer frühesten Kindheit verband uns innige Freundschaft. Allerdings trennten uns aufgrund der derzeitigen Arbeitsmarktsituation hunderte von Kilometern. Sie lebte in Schwerin und ich bei Bremen.
Immer, wenn einer von uns Urlaub hatte, besuchten wir uns gegenseitig. Zurzeit, um genau zu sein, seit einer Woche, weilte meine Freundin bei mir.
In den nächsten zwei Tagen würden wir unsere Campingausrüstung und unsere Metal-Klamotten zusammenpacken und die letzten uns verbleibenden Tage auf dem Wacken Open Air verbringen. Auch wenn ich danach noch eine Woche Urlaub hatte, musste Silke dann wieder arbeiten.
Doch dieser Sonntag gehörte uns allein, ohne Verpflichtungen bei gemeinsamen Freunden oder Vorbereitungen für das Event. Einmal einen ganzen Tag nichts, aber auch gar nichts tun, war unser Ziel.
Doch bald wurde es langweilig. Das miese Regenwetter hatte uns zu einem Fernsehtag verdonnert. Also, wie konnte man sich ablenken? Auf Karten- oder Brettspiele hatten wir keinen Bock, meine Videofilme kannten wir fast in- und auswendig, und im Fernsehr lief nichts, was uns auch nur im Entferntesten interessierte. Dennoch nudelte der Kasten ununterbrochen.
Und lieferte uns endlich etwas zum Zeitvertreib.
Die Werbung verhieß heiße Dates, wenn man sich auf einer bestimmten Videotexttafel umsah, sich einen Partner nach den angegebenen Wünschen heraussuchte und ihm eine Mail mit 'nem Foto von sich schickt. Sollte der- oder diejenige mit einem Bild antworten und ein Treffen wünschen, konnte dem Glück nichts mehr im Wege stehen.
Wir beiden Frauen waren trotz unserer 31 Jahre immer noch Singles und wollten es auch weiterhin bleiben. Sexuelle Kostverächter konnte man uns auch nicht nennen, doch wir lebten unsere Triebe lieber in unserer näheren Umgebung aus.
Obwohl es uns nicht ernst war, trickerten wir unter falschen Namen und nur zum Spaß ein paar Jungs an und erteilten ihn unter erfundenen Einwänden eine Abfuhr. Zu befürchten hatten wir ja nichts. Wir suchten uns Jungs aus, die aus fremden Regionen stammten und uns laut deren Beschreibungen sowieso nicht zugesagt hätten.
Damit beschäftigten wir uns so lange, bis ich an jemanden geriet, der es problemlos schaffte, mir ein schlechtes Gewissen zu vermitteln.
Laut dem Videotext hieß er Holger, war 32, lebte in Hamburg, liebte Heavy Metal, Motorräder, Tattoos und war dennoch ein Naturfreund. Schon beim Anmailen spürte ich Hemmungen, da er, entgegen der anderen Typen, meine Vorlieben teilte. Dann kam sein Bild. Er sah süß aus. Sein ovales Gesicht zeigt schöne Züge. Er hatte dunkelblonde, schulterlange Haare, dunkle, tiefliegende Augen zwischen dunklen Wimpern und eine aristokratische Nase. Seine Lippen waren relativ schmal, allerdings passten sie zu ihm. Doch genau darauf bezog ich mich, um ihm eine Absage zu erteilen. Immerhin wollte ich von sinnlichen Lippen bis in die Unendlichkeit geküsst werden und nicht auf blanker Haut herumlutschen.
Prompt erhielt ich die Antwort: Danke für den Feak! Aber auf kleine Mädchen mit Kindergartengebaren habe ich sowieso keinen Bock!
Mist! Irgendwie tat es mir nun wirklich leid, daß ich ihn verärgert hatte.
*****
Die nächsten zwei Tage bedeuteten Stress, um ja nichts für das große Event zu vergessen. Und der Anreisetag für die Großveranstaltung erst recht.
Die Straßen gen Norden waren recht voll und der Verkehr verdichtete sich zunehmend, je näher wir dem ansonsten unscheinbaren Örtchen Wacken kamen. Der Zeltplatz erwies sich als riesig, dennoch war es voll und es herrschte das reinste Durcheinander bis spät in die Nacht.
Erst am nächsten Tag ging es etwas ruhiger und gesitteter zu, auch wenn freudige Erwartung die ganze Szene überlagerte. Was ich noch nicht ahnen konnte, war das unhaltbare, persönlich Chaos, welches mich ereilen sollte.
Das Festgelände war proppevoll, wie nicht anders zu erwarten, und es stellte sich als fast unmöglich heraus, sich einen Weg an die Merchendisingstände zu bahnen.
Da die für Silke und mich wirklich interessanten Bands erst später auftreten sollten, holten wir uns eine Cola und suchten uns ein freies Stück Wiese. Vorzugsweise an der blickdichten, schattenspendenden Geländeeinfassung, da es die Sonne am Eröffnungstag zu gut mit uns meinte.
Kaum hatte ich meine Lederjacke auf dem Boden niedergelegt und wollte mich setzen, nahm ich aus den Augenwinkeln eine Bewegung wahr.
Hallo Madeleine.
Schon wurde mir der Becher aus der Hand gerissen und ich landete an einer steinharten, breiten Männerbrust. Starke Arme umschlangen mich, verhinderten, daß ich mich entziehen konnte. Die Lippen, die sich unmittelbar darauf hart und unnachgiebig auf meinen Mund pressten, ließen mich erst recht nicht zur Besinnung kommen. Sie öffneten meine überrumpelten Lippen, verschafften einer zudringlichen Zunge Einlass und stahlen mir einen Kuss. Einen faszinierend fordernden Kuss, der meinen Blick trotz geöffneter Augen verschleierte und meine Beine zu Wackelpudding verarbeitete.
Sekunden später gab ich mich dem Fremden widerstandslos hin. Seine Lippen wurden weich, zart und dennoch leidenschaftlich. Seine Zunge neckte und verführte zum Walzer. Alles in allem entlockte mir dieser himmlische Mund einen sehnsüchtigen Seufzer aus tiefster Seele.
Plötzlich löste sich dieser unwiderstehliche Typ von mir und ließ mich auf wackeligen Beinen zurück. Erschüttert öffnete ich die Augen und blinzelte meinen Gegenüber an.
Zuerst sah ich nur einen feuchten Mund. Ich fand es faszinierend, daß diese schmalen Lippen so schön küssen konnten. Mein Blick weitete sich und ich nahm das ganze Gesicht wahr. Dunkelbraune, tiefliegende Augen zwischen dunklen Wimpern, eine aristokratische Nase in einem ovalen Gesicht mit schönen Zügen, eingerahmt von dunkelblonden, schulterlang zerzausten Haaren.
Ich war perplex.
Holger! schoss es mir durch den Kopf und aus dem Mund.
Tja, Süße. So fühlt es sich an, wenn man an zwei Hautlappen herumlutscht.
Abrupt wand er sich ab und bahnte sich einen Weg mit langen Schritten durch die Menschenmassen. Nach wenigen Augenblicken entschwand er meiner Sicht und hinterließ in mir ein Gefühl der Verzweiflung.
Madeleine! - Madeleine! - Huhu! Silke fuchtelte wie wild vor meinen Augen herum. Wer war den dieses Schnuckelchen?
Ich wusste nicht, wie ich es am besten erklären sollte, also versuchte ich es so: Kannst du dich an letzten Sonntag erinnern, als wir die Typen wegen 'nem Date angemailt haben und dann abblitzen ließen? Meine Freundin nickte zögerlich, daher fuhr ich fort. Das war der letzte Typ, dem ich gemailt habe.
Silke boxte mich auf den Arm.
Bist du verrückt? fauchte sie mich an. Wie konntest du das diesem süßen Kerl antun?
Ich starrte sie verwirrt an. Hast du sie noch alle? Es war deine Idee?
Doch sie ließ sich dadurch nicht beirren. Du weißt doch, daß ich immer solche durchgeknallten Ideen habe, wenn mir langweilig ist. Warum hast du mich nicht davon abgehalten? - Jetzt ist dieser sexy Sonnenschein sauer. Und das alles nur wegen dir!
Natürlich! Jetzt war ich wieder daran schuld. Wutschnaubend sammelte ich meine Jacke auf, entrieß Silke meinen Colabecher, den sie wohl von Holger zuvor in die Hand gedrückt bekommen hatte, und suchte mir ziellos eine Menschenmenge, in der ich untertauchen konnte.
Doch schon am Abend beim Zelt vertrugen wir uns wieder. Da das Gelände so von Menschen überfüllt war, hatten wir uns nicht mehr wiedergetroffen. Und da meine Augen nur nach einem hoch aufragenden, dunkelblonden Männerkopf gesucht hatten, wäre mir der Brünette einer 1,60 m Frau sowieso entgangen.