Ein letzter Blick in den ungewohnten Spiegel. Die Krawatte saß. Noch ein paar Tropfen Rasierwasser ins Gesicht und dann ab, raus in die Diele. Dort nahm ich das Jackett von Haken und warf einen Blick auf die Uhr. Natürlich hatte ich noch jede Menge Zeit. Deswegen ging ich ins Wohnzimmer und setzte mich Anne gegenüber auf einem Sessel. Die sah nur kurz von ihrer Zeitschrift auf, sagte aber nichts.
Wolfgang, mein deutlich älterer Bruder, war nun schon drei Jahre tot. Anne war seine zweite Frau gewesen, deutlich jünger, deutlich agiler, aber auch deutlich direkter als die Französin Geraldine, die er kurz nach dem Ende seines Studiums geheiratet hatte. Geraldine war selbst für meine Begriffe langweilig gewesen und ich hatte nie begriffen, was er an ihr gefunden hatte. Kontakt zu ihr hatte ich nie richtig und ihre beiden Kinder, Florence und Sebastien, kannte ich kaum. Sie lebten nach der Trennung mit ihrer Mutter in Marseille. Bei der Beerdigung hatte ich sie das letzte Mal gesehen.
Anne hingegen mochte ich wirklich. Sie war etwa in meinem Alter und ließ sich von nicht unter kriegen. Als Wolfgang krank wurde, ließ sie sich beurlauben um nur noch für ihn da zu sein. Eine Woche nach der Beerdigung, arbeitete sie wieder.
Wolfgang und Geraldine waren damals in unser Elternhaus gezogen. Mein anderer Bruder Thomas und ich, hatte nichts dagegen. Wir waren sowieso in Deutschland verstreut. Thomas als Professor für Physik an der Uni Berlin und ich? Nun, ich hatte auf Wunsch meines Vaters das Bankfach erlernt, dann aber nach kurzer Zeit erkannt, dass mir das von ihm favorisierte Passivgeschäft, also das mit den Wertpapiere und so, nicht lag. Ein Jahr als Trader in der Schweiz und ein weiteres Jahr USA hatten mir gezeigt, dass ich das ganz sicher nicht wollte.
Also kehrte ich zurück, studierte Jura und kehrte nach dem Abschluss zu einer Bank zurück. Diesmal allerdings in das Aktivgeschäft, also Kredite und so. Vor fünf Jahren erfolgte das Angebot als Dozent zu einer Wirtschafts- und Verwaltungsakademie gehen. Ich nahm an und wurde nach der Pensionierung von Prof. Schröder, dessen Nachfolger als Leiter der Akademie.
Im Dezember hatte mich völlig unerwartet ein Brief erreicht, in dem ich zu einem Klassentreffen unserer alten Abitursklasse eingeladen wurde. Lange zögerte ich, ob ich mir das antun sollte, war mir doch das Treffen vor 15 Jahren noch allzu gut in Erinnerung. Schon wollte ich absagen, als Gabi, die Organisatorin, mich anrief. Sie ließ keine Ausrede gelten. Selbst mein Hinweis auf die Streitereien des letzten Treffens wischte sie weg. Andy und Kitty kommen nicht! Also, kein Grund anzunehmen, dass es wieder Krach gibt. Aber ein paar Leute kannst du wiedersehen, die das letzte Mal nicht dabei waren. Sie zählte Namen auf. Sabine, Elke, Susanne, Frank 1 und Frank 2, Konrad und Jochen; Ach so, Cosi habe ich noch vergessen! Sie redete auf mich ein, bis ich schließlich nachgab und mein Kommen zusicherte.
Kaum war das Gespräch beendet, rief ich bei Anne an und fragte sie, ob sie mir Asyl gewähren würde. Nur für zwei Tage und eine Nacht. Du kannst gerne auch länger bleiben. Irgendwie bist du ja auch hier zu Hause. Also, bleib, solange du willst. Und da war ich nun. Seit gestern abend und ich würde noch ein paar Tage dranhängen. Die Semesterferien hatten begonnen und ich war abkömmlich.
Jetzt saß ich also meiner Schwägerin gegenüber und da sie an keiner Unterhaltung interessiert war, nahm ich das knisternde Papier aus meinem Jackett und las noch mal die Mail, die mir Gabi zuletzt geschickt hatte: Wir sind jetzt komplett. Insgesamt haben 16 von 22 Schulkameraden zugesagt. Kein schlechter Schnitt, wie ich meine. Ich freue mich auf unseren Abend und wünsche euch und mir anregende Gespräche und überhaupt viel Spaß. Eure Gabi. Dann folgte die Adresse des Lokals, wo wir uns treffen würden, mit genauer Wegbeschreibung.
Ich sah mir die Namen an. Zu einigen wusste ich etwas sagen, bei manchen fiel mir ein Gesicht ein. Frank 1 und Frank 2 würde ich durcheinander bringen, dass wusste ich. Und wer bitte, war Cosi? Da sagte mir weder der Name etwas, noch hatte ich ein Gesicht dazu.
Sag, willst du wirklich so dahin gehen? Anne riss mich aus meinen Gedanken. Ich sah hoch. Was spricht dagegen? Anne gluckste. Herr Dozent, du siehst aus, wie dein eigener Großvater. Ich sah an mir herunter. Nun, ein wenig bieder wirkte das schon, um nicht langweilig zu sagen. Doch Anne setzte noch einen drauf. Sag, bist du Anfang vierzig oder Ende sechzig. Das saß. Ich hab doch nicht viel anderes mit, maulte ich, allerdings ziemlich kleinlaut.
Jackett aus, Krawatte weg, die obersten beiden Knöpfe auf, die Ärmel hoch krempeln. Annes Ton war unerbittlich. Folgsam stand ich auf und tat, was sie verlangte. Ich kann doch nicht ohne Jackett gehen, wagte ich einzuwenden. Doch Anne zog mich die Treppe rauf. Such dir was passendes aus! Sie öffnete einen Schrank. Darin hingen Klamotten von Thomas. Als ich mich nicht regte, griff sie nach kurzem Blick in den Schrank. Da, dass passt zu dir und dem Rest den du anhast. Ich besah mich im Spiegel. Ungewohnt, aber ok. Natürlich würde aus einem trockenen Juristen kein Vollblutplayboy werden, schon gar nicht dadurch, dass er das Jackett wechselte, aber ein wenig lockerer sah ich schon aus.
Und dann stand ich auf dem Parkplatz des Lokals, wo wir uns treffen wollten. Was für eine Situation. Nervös war ich, schwitzige Hände hatte ich, die unruhig hin und her gestikulierten. Warum eigentlich benahm ich mich, wie weiland bei meinem ersten Rendezvous? Oder beim Zweiten, oder Dritten? Keine Ahnung! Aber während meine Gedanken sich mit diesen Rendezvous beschäftigten, griffen meine Hände automatisch nach den Zigaretten, die ich mir vorhin noch gekauft hatte.
Ja, ich hatte viele Erste Dates gehabt, aber so richtig draus geworden war nie etwas. Bis auf das eine Mal. Corina! Wir waren erst Freunde, dann ein Pärchen, schließlich ein Paar. Wir heirateten und bekamen eine Tochter. Und dann war sie weg. Meine Frau, meine ich. Weg zu einem Freund aus der Jugend und hatte unsre Tochter mitgenommen. Jahre war das her und inzwischen konnte ich endlich nur noch die schönen Seiten der Beziehung sehen. Der Verlust, die Trauer, die Wut, das alles war abgehakt.
Ein Wagen kam auf den Parkplatz geschossen. Kies spritzte und ich hörte tatsächlich die Bremsen quietschen, beziehungsweise, die blockierenden Reifen auf dem sandigen Untergrund rutschen. Die Fahrertüre öffnete sich und eine Erscheinung faltete sich aus dem Auto, die ich erst mal verdauen musste. Weiblich, das war nicht zu übersehen. Aber was hatte die denn an? Ein schreiend buntes und ebenso kurzes, dünnes Chiffonkleid, schwarze Overknees, darunter fürchterlich gemusterte Strümpfe und über das Kleid ein farblich überhaupt nicht passendes, gelbes Bolero-Jäckchen. Hinzu kamen Pumucklrote Haare. Ein Spruch fiel mir ein. Wo viel Lid ist, ist auch viel Schatten. Und was für ein Schatten! Kunterbunte Streifen. Vor mir stand ein Papagei!
Du kannst doch nur der Ronald sein! Ertappt! Ja, der bin ich. Und du? Ich hatte keine Ahnung, wer dieser Papagei war. Sophie! Damit drehte sie sich um, fummelte eine überdimensionierte Handtasche aus dem Wagen und verschwand, indem sie eine Wolke süßlichen Parfums hinterließ.
Der Rest der Truppe trudelte so nach und nach ein. Gabi hatte einen Sektempfang organisiert. Und so standen wir also alle im Wintergarten herum und versuchen die alte Vertrautheit aus Schülertagen wieder aufleben zu lassen. Ich muss zugeben, dass ich manche nicht wieder erkannt hätte. Karl-Heinz zum Beispiel. Unser bester Sportler war ganz schön auseinander gegangen. Dafür hatte sich Elisabeth, die eigentlich immer pummelig war, sehr gestreckt und zu war zu einer bildschönen Frau mutiert.
Die einzige, die sich kaum verändert zu haben schien, war Cosima. Immer noch graue Maus in Person, immer noch dicke Brille, immer noch strenge Pferdeschwanzfrisur und immer noch unmögliche, unvorteilhafte Kleidung. Oh ja, jetzt erinnerte ich mich deutlich an sie. Intelligent zwar, aber selbst bei den Lehrern wegen ihrer ständigen Besserwisserei und Überheblichkeit nicht wohl gelitten.
Nach anfänglicher, allgemeiner Zurückhaltung, wurde es lebhafter. Man unterhielt sich, zu zweit, in kleineren oder größeren Grüppchen. Lachen drang durch den Wintergarten. Die alten Witzbolde hatten nichts verlernt. Im Gegenteil sie waren noch besser geworden. Sophie hatte, was die weibliche Garderobe anging, ganz sicher den Vogel abgeschossen. Die anderen Mädchen kicherten ob des missglücken Ensembles hinter vorgehaltener Hand, während die Jungs offensichtlich nicht viel daran auszusetzen hatten.
Langsam scheuchte uns Gabi an den großen, runden Tisch, den sie hatte decken lassen. Dort ging die Unterhaltung unvermindert weiter. Na ja, nicht überall! Ich zum Beispiel hatte das Pech, genau zwischen Sophie und Cosi zu sitzen und so war mir die Rolle als Prellbock bestimmt, denn Sophies ätzende Kommentare zu Cosima waren schon ziemlich heftig.
Irgendwann wurde es Cosima wohl zuviel. Sophie hatte gerade darüber abgelästert, dass Cosima wohl keinen abbekommen habe. Der alten Jungfrau kannste auch ungeöffnet zurück auf dem Grabstein schreiben! Musste das sein? Sophie sah mich kaum an, als sie antwortete. Klar! Die braucht das! War schon immer so. Und was wahr ist, darf man auch sagen! Lieber nicht, meinte ich ganz leise. Du könntest schlecht dabei weg kommen. Aber Sophie hatte es nicht mehr gehört.
Inzwischen war ich mit Peter in ein Gespräch eingestiegen, aber wie das so ist, irgendwann kommt eben jemand dazu, mischt sich ein, vor allen Dingen, wenn das Essen vorbei ist. So auch hier. Plötzlich saß Frank 1 auf dem Platz neben Peter und quasselte drauf los. Irgendwann verspürte ich das Bedürfnis nach frischer Luft. Und nach einer Zigarette. Ich huschte mich nach draußen und setzte mich auf eine etwas abseits stehende Bank.