Es war ein Summen, das mit einem relativ tiefen Ton begann, sich dann langsam in die Höhe schraubte und wieder etwas tiefer kam. Besonders laut war es nicht, aber es drang doch deutlich zu mir her. Neue Geräusche kamen hin zu. Ein verhaltenes Klacken der Räder, das schwer zu beschreibende Geräusch das entsteht, wenn der Luftwiderstand gebrochen wird, tapsende Schritte und eine Lautsprecherdurchsage. Verzerrt, weit weg, nicht zu verstehen. Nur die Geräusche mischten sich in meinem Kopf.
Hinter der Anzeigetafel mit dem Wagenstandsanzeiger und den Abfahrtzeiten stand ich, gedeckt gegen den Bahnsteig 2, und sah dem langsam aus der offenen Halle entschwindenden IC hinterher. Die Hitze des Tages ließ die Luft flirren und die roten Rücklichter verschwanden fast in den Schlieren dieser heißen Luft.
Oder waren es gar nicht die Schlieren der Luft? Waren es meine nur mühsam zurück gehaltenen Tränen? Möglich war alles. Entschuldigung? Die ungeduldig fragenden Stimme riss mich aus meinen Gedanken heraus und ließ mich aufschrecken. Entschuldigung, können Sie mal einen Schritt auf die Seite gehen? Ich sah in das ungeduldige Gesicht einer aufgetakelten Frau. Der Schweiß rann ihr in dicken Strömen über das zu stark geschminkte Gesicht. Sie schnaufte wie eine Dampflok. Ob wegen ihrer Körperfülle, oder der Aufregung, in der sie sich befand, konnte ich nicht unterscheiden. Entschuldigung, natürlich! Murmelte ich und trat aus dem Schatten der Anzeigetafel hinaus auf den Bahnsteig. Jetzt konnte ich es ja ungefährdet tun, der Zug war weg, aus der Halle gefahren.
Und mit ihm abgefahren, war meine Zukunft, waren meine Träume, war meine Liebe. So wie er die Stadt verlassen hatte, hatte Gero auch mich verlassen, kühl kalkulierende, einer unbestimmten, aber sicher besseren Zukunft entgegensehend. Ich blieb allein zurück. Und plötzlich schien mich die Kleinstadt noch mehr einzuengen, als bisher schon. Warum weiß ich nicht, aber mir kam Purple Schulz in den Sinn, sein Aufschrei in dem Lied Sehnsucht.
Ich will raus! Oh ja, genau das fühlte ich. Raus, raus aus allem was mich erinnerte, raus aus meinen Gedanken, raus aus meiner Haut. Einen letzten Blick warf ich auf das nun leere Gleisvorfeld, dann drehte ich mich um und ging langsam dem Treppenabgang zu.
Unten, im Bauch des Bahnhofes, wuselten Menschen um mich herum, hastete in die eine oder andere Richtung. Alle hatten es eilig. Die einen wollten weg, die anderen endlich ankommen. Und ich? Ich wollte nur raus, wollte nur alleine sein, meinen Gedanken nachhängen und verstehen, was zwischen gestern und heute passiert war.
Aus dem relativen Dunkel der Bahnhofshalle trat ich in das gleißende Sonnenlicht des Bahnhofsvorplatzes. Geblendet schloss ich die Augen und blieb für einen Moment stehen. Können Sie nicht weitergehen? Blaffte mich eine Stimme an. Mitten im Eingang stehen bleiben, wo gibts denn so etwas? Er hatte ja recht und deshalb ging ich schnell drei Schritte auf die Seite.
Und jetzt? Die Boutique hatte ich wie jeden Samstag um 13.00 Uhr zu gemacht. In einer Kleinstadt war das eben so. Ich war nach Hause gegangen und dort hatte die mühsam aufrecht erhaltene Fassade ihre Risse bekommen. Es hatte Stunden gedauert, bis ich mich wieder soweit im Griff hatte, dass ich den schweren Weg zum Bahnhof gehen konnte. Ich wusste, dass Gero mit dem Zug um 16.50 Uhr Richtung Norden fahren würde, schließlich hatte ich das Ticket und die Platzreservierung gefunden und ihn ganz harmlos gefragt, wann er denn wieder kommen würde.
Nach Hause konnte und wollte ich nicht. Mich ablenken? Sicher! Aber wie und womit? Hunger hatte ich keinen, das einzige Kino der Stadt zeigte einen Liebesfilm, also genau das, was ich nicht brauchen konnte. Ziellos lief ich durch die leerer werdenden Straßen der Stadt. Ohne darüber nachzudenken, führten mich meine Schritte aus der Stadt hinaus, am Friedhof vorbei. Vorbei an der staatlichen Versuchsanstalt für Obstbau, immer weiter, bis auch das letzte Stückchen Zivilisation hinter mir lag und ich auf der mehr oder weniger kahlen Höhe des Hausberges der Stadt halt machte. Nur ein einziger Baum breitete dort seine Krone aus, spendete Schatten. Ich setzte mich auf die wackelige Holzbank, die hart am Stamm stand und starrte in das Tal hinunter.
Eva, würden Sie bitte mal zu mir kommen? Die freundliche und sonore Stimme meines Chefs Andre Bergner drang durch das Telefon an mein Ohr. Wie? Jetzt gleich? Ich war doch etwas überrascht. Unabhängig davon, dass wir den Laden offen hatten und Carina krank und Tabea noch nicht da waren, würde ich selbst mit dem Auto, dass ich gar nicht dabei hatte, mindestens eine dreiviertel Stunde brauchen, bis ich mich durch den innerstädtischen Verkehr bis zu dem Villenviertel gequält hatte, in dem er wohnte und von wo er die Geschicke seiner Boutiquen leitete.
Ich hörte ihn leise lachen und sah ihn förmlich vor mir. Die große, stets elegante Erscheinung eines Kavaliers alter Schule. Schlohweißes Haar, gebräunte Haut, stets extravagant und modern gekleidet. Vielleicht eine Spur zu elegant und für mich auf jeden Fall zuviel Schmuck. Man munkelte, dass er für beide Geschlechter ein Faible hatte. Mir war das jedoch egal. Er war ein Fachmann auf seinem Gebiet und hatte sich mir gegenüber immer sehr korrekt verhalten.
Nein, meinte er, nicht jetzt. Nachher, wenn Sie Mittagspause haben. Ich schicke Ihnen Mario mit dem Wagen vorbei! Ist 12.45 ok für Sie? Natürlich, sagte ich, denn schließlich war er mein Boss. Eigentlich wäre ich ja lieber in das kleine, verträumte Restaurant gegangen. Man aß dort wirklich gut und preiswert. Und wer weiß, vielleicht hätte Alessandro ja die Mittagsschicht gehabt? Alessandro!
Kommen Sie rein, Eva! Mit großer Geste geleitete mich mein Chef in das Innere des Hauses. Aber nicht in das Kellergeschoss, in dem sich sein Büro befand, sondern in das große, Lichtdurchflutete Wohnzimmer. Was darf ich ihnen anbieten? Ich schüttelte den Kopf. Nichts, danke! Mein Chef nahm mir gegenüber auf einem Sofa Platz. Sein Blick streifte mich und blieb an meinen Knien hängen. Vielleicht war mein Röckchen etwas zu kurz geraten, aber wer rechnet auch damit, dass der Chef einem die Mittagspause verdirbt? Für Alessandro hatte ich es angezogen, vielleicht, dass ich damit endlich seine Aufmerksamkeit erregen würde.
Kenne Sie Che Nous? Begann er die Unterhaltung. Irgendwie war mir, als habe ich diesen Begriff schon mal gehört, konnte ihn aber nicht unterbringen. Ich schüttelte den Kopf. Bergner lehnte sich bequem zurück, streifte noch mal mit seinem Blick meine Knie und begann dann zu dozieren.
Che Nous ist kleine, aber feine Kette von Boutiquen, die sich als Zielgruppe die Frau von 30 40 ausgeguckt hat. Nicht gerade neu, aber interessant. Gründer und Chef des Ganzen ist Homer von Berlingheim. Oder sagen wir, er ist der Gründer und war der Chef. Ich habe ihm das Ding abgekauft. Seine lebhaften Augen blitzten dabei schelmisch auf, als sei das alles nur ein Spiel.
Das Flagschiff der Kette sitzt seltsamerweise in einem Kaff namens Tiefenkaltenstein. Er schüttelte sich. Der Laden läuft wirklich gut, da sehr viele Kundinnen aus dem weiteren und näheren Umland dort einkaufen. Ich möchte, dass Sie die Leitung übernehmen!
Wie erschlagen saß ich da. Warum ich? Stotterte ich hervor. Lange sah mich Bergner an.
Zum Einen, weil sie gut sind, dann weil sie das können und zuletzt, weil sie die einzige meiner Damen sind, die keine Beziehung hat. Oder täusche ich mich da? Oh nein, er täuschte sich nicht. Alessandro war ja auch nur ein, wie soll ich sagen, Versuch meinerseits. Angebissen hatte er noch nicht.
Ein viertel Jahr später rumpelte mein kleiner Wagen eine Kopfsteinpflasterstraße entlang. Ich fand einen Parkplatz und stieg aus. Ich lehnte mich an meine Wagentüre und starrte das Ensemble gegenüber an. Das zweistöckige, in mediterranem Rot gestrichene Haus, mit den weißen Fensterrahmen, im Erdgeschoss die Toreinfahrt zu den Garagen, daneben das eingerüstete Haus, vor dem die zwei Männer standen.
Na prima, niemand hatte mir gesagt, dass in der Nachbarschaft Bauarbeiten durchgeführt werden würden. Ich gab mir einen Ruck und ging auf mein neues Heim zu. Hier, im zweiten Stock links, würde ich nun die nächste Zeit, die nächsten Jahre wohnen. Die Wohnung war schön und preiswert. Bergner hatte sie mir vermittelt und ich hegte den Verdacht, dass er bei der Vermietern ein gutes Wort für mich eingelegt hatte. Denn üblich war es nicht, dass man auf eine Kaution verzichtete. Außerdem bekam ich das Privileg zugestanden, meinen kleinen Hüpfer in der Garage abstellen zu dürfen.
Mit meiner Reisetasche bewaffnet, ging ich über die Straße. Wir sollten die Attika doch aufdoppeln. Schauen Sie, so ein großer Aufwand ist das nicht. Das sind bei dem Vordach doch maximal 3 laufende Meter. Ok, lassen sie es 4 sein. Die Kosten werden nicht mehr als 1.500,00 Euro ausmachen, aber dann haben sie Ruhe. Außerdem sparen sie den Gerüstbauer, denn jetzt steht es ja schon! Die Stimme des jungen Mannes war eindringlich, aber er schien sein Gegenüber nicht beschwatzen zu wollen. Ich weiß nicht, das ist viel Geld! Der junge Mann zuckte mit den Achseln. Ihre Entscheidung, Herr Müller! Ich überlege es mir!
Engel, pass auf und komm gesund wieder! Diese Worte hörte ich, als ich die Haustüre öffnete. Vom Treppenabsatz kam ein Mädchen, vielleicht 6 Jahre alt angestürmt. Auf dem Rücken trug sie einen Lillifee-Rucksack und unter dem Arm einen Plüschhasen. Mach ich! Und schon war sie an mir vorbei und sprang jauchzend einem Mann in die Arme, der dort offensichtlich auf sie gewartete hatte. Papa, Papa, ich muss dir was.... hörte ich noch, dann klappte die Haustüre zu.