Der Mensch neigt nicht dazu, sich allzu sehr mit philosophischen Denkansätzen auseinander zusetzen. Und dennoch, jeder Mensch, auch ich, kommt manchmal in die Situation, sich eine der normalsten, wenn auch am schwersten zu beantwortenden Fragen zu stellen. Ich meine damit, das berühmte, was wäre wenn....?
Nun kann man sich das fragen, wenn man die große Geschichte im Auge hat. Zum Beispiel, was wäre gewesen, hätte Caesar auf mahnende Worte gehört. Nach Plutarch warnte der Augur Titus Vestricius Spurinna Caesar am Tage vor dem Anschlag mit den Worten: Hüte dich vor den Iden des März!
Nun, wahrscheinlich wäre Caesar an diesem Tag nicht ermordet worden und die Weltgeschichte hätte einen anderen Verlauf genommen.
Aber wie im Großen, so auch im Kleinen, ändern die täglichen Entscheidungen, die wir in großer Zahl treffen, den Verlauf der Ereignisse. Auch ich stelle mir an manchen Tagen diese Frage und kann sie in den meisten Fällen nicht beantworten. Doch heute, da kann ich sagen, was gewesen wäre. Aber nicht wenn, sondern wenn nicht! Sie sehen den Unterschied?
Nun, wenn ich an diesem Freitagabend vor ein paar Wochen nicht noch spät am Nachmittag die Aufforderung der Personalabteilung erhalten hätte an einem Eingliederungsgespräch teilzunehmen und wenn ich nach diesem Gespräch nicht noch ein wenig, die eine oder andere Zigarette rauchend, mit der niedlichen Verkäuferin vom EDEKA-Markt nebenan geflirtet hätte übrigens ohne Erfolg dann wäre ich an diesem Abend nicht spät nach Feierabend in mein Büro zurück gekommen und auch nicht meinem Chef begegnet.
Und der hätte mich nicht, weil ich für seinen Geschmack noch zuviel Urlaub hatte, einfach so für die kommende Woche in Urlaub geschickt. Und wäre das nicht gewesen, nun, dann würde ich jetzt hier keine Geschichte erzählen können. Zumindest nicht diese.
Mein Name ist Gerd. Ich bin über 50, Single und habe keine Kinder. Nicht schlank, das war ich nie, grau meliert und absolut unsportlich, verdiene ich meine Brötchen bei einem großen internationalen Versicherungskonzern als Organisator. Meine schlechtesten Eigenschaften sind meine Ungeduld und mein aufbrausendes Temperament. Damit und mit meiner Scharfzüngigkeit, habe ich mir nicht nur Freunde gemacht. Aber ich habe auch gute Eigenschaften, sagt man mir zumindest nach. Eine davon ist, dass ich zuhören kann und dass ich eben diesen Sozialtouch habe, der mich auch dazu gebracht hat, als Vertrauensperson für die Schwerbehinderten Mitarbeiter zu fungieren.
Eigentlich bin ich mit meinem Leben zufrieden, wenn ich auch zugeben muss, dass mir meine gefühlte Einsamkeit das eine oder andere Mal doch gewaltig auf den Keks geht. Klar, hin und wieder habe ich ein paar Affären gehabt, aber so richtig in einer Beziehung, habe ich nie gelebt. Dennoch, gegen ein gepflegtes Abenteuer habe ich nichts einzuwenden, wenn ich auch zugeben muss, dass ich nur selten aktiv auf die Suche gehe. Vielleicht liegt es daran, dass es wenig Frauen zu geben scheint, die bereit sind, sich auf eine Affäre einzulassen. Die meisten suchen, wenn überhaupt, nach einer Beziehung und das ist nichts für mich.
Jetzt saß ich also an diesem Wochenende bei mir zu Hause und versuchte mir vorzustellen, was ich mit diesem ungeplanten Urlaub anfangen sollte. Eine Woche war zu lang, um sie zu vertrödeln, aber auch zu kurz um irgendwohin zu fliegen. Klar, ich hatte im Internet nach Angeboten geschaut, aber nichts gefunden, was mich angesprochen hätte. Das ansonsten von mir verschmähte Amtsblatt, ließ mich aufmerksam werden. Eine Anzeige versprach erholsame Tage in einem Hotel, irgendwo auf der Schwäbischen Alb.
Dunkel erinnerte ich mich, dass dort einmal eine Tagung stattgefunden hatte und ich erinnerte mich auch daran, dass mir Hotel, Service und Umgebung mehr als nur gut gefallen hatten. Kurz entschlossen rief ich an und bekam tatsächlich ein Zimmer für eine Woche. Von Montag bis Sonntag. Überaus passend, genau wie der eigentlich recht günstige Preis.
Und sofort kam mir eine weitere Idee. Was, wenn ich schon heute, also Samstag losfahren würde und meine auf halber Strecke wohnende Schwester mit Familie besuchen würde? Ich hatte sie schon ewig nicht mehr gesehen. Und wieder handelte ich spontan. Ich rief Sybille an und wurde herzlich eingeladen. Zum Packen brauchte ich nicht lange und war schon bald unterwegs.
Doch, es wurde ein schöner Abend im Kreise der Familie meiner Schwester, wenn auch deren Kinder etwas Unruhe brachten, eine Unruhe, die ich nicht gewöhnt war. Und noch etwas kannte ich so nicht. Am Sonntagmorgen hörte ich Geräusche, die eindeutig waren. Das Stöhnen meiner Schwester und ein rhythmisches Klopfen. Ehrlich gesagt, berührte mich das unangenehm und ich gab mir Mühe, es zu ignorieren. Bald schlief ich wieder ein und wurde diesmal von Kinderstimmen geweckt. Es war Zeit zum aufstehen.
Als ich meiner Schwester am Frühstückstisch gegenüber saß, wurde es noch mal kritisch, so nach dem Motto, Ich weiß, was ihr getan habt. Aber es gelang mir auch diesmal, die Gedanken zu verdrängen.
Der Tag verlief harmonisch, die Nacht ohne störende Geräusche und als ich am Morgen aufstand, war mein Schwager schon zur Arbeit und die Kids in der Schule. Meine Schwester und ich saßen mit unserem Kaffee auf der Terrasse und unterhielten uns. Als sie sich daran machen musste, das Mittagessen für die Kids zur richten, zu dem sie mich einlud, brach ich auf. Es waren schon noch einige Kilometer zu fahren und ich wollte ankommen.
Am späten Nachmittag war ich schließlich am Ziel, checkte ein und packte die wenigen Sachen aus, die ich dabei hatte. Ich setzte mich in den Garten und las in dem mitgebrachten Buch bis es Zeit für mich wurde, nach einem Abendessen zu schauen.
Ich fand auf der Karte des Restaurants ein vorzügliches Menü und den passenden Wein dazu.
Nach einem wunderbar weichen Obstbrand, suchte ich erneut den Garten auf und las, bis es zu dunkel dafür wurde.
Noch ein Absacker in der Bar und ich war gerüstet für das Bett. Tief und traumlos schlief ich bis in den hellen Morgen und genoss anschließend das ausgezeichnete Frühstücksbuffett auf der Terrasse. Anschließend machte ich einen Bummel durch das wirklich sehenswerte Städtchen, bedauerte, dass ich meinen Fotoapparat nicht dabei hatte und unternahm dann einen etwas weiteren Spaziergang durch die herbstliche Landschaft.
Wieder zurück im Hotel, ließ ich mir einen Kaffee auf die Terrasse bringen und träumte in der herbstlichen Sonne so vor mich hin. Ein weiterer Kaffee folgte und während ich auf ihn wartete bemerkte ich, dass ich keine Zigaretten mehr hatte. Deshalb stand ich auf und ging ins Hotel. Dort würde ich schon einen Automaten finden. Und so war es auch.
Zu sehr mit den Gedanken nach dem wo beschäftigt, war mir die Frau auf meinem Gang ins Hotel gar nicht aufgefallen. Jetzt, bei meiner Rückkehr sah ich sie allerdings. Sie strahlte eine mühelose Eleganz aus, wie sie da vor mir an ihrem Tisch saß. Die wirklich schönen Beine, die vom Knie abwärts aus einem geschmackvollen Rock hervortraten, sittsam nebeneinander gestellt, saß sie bequem in ihren Stuhl zurück gelehnt, die modische Sonnenbrille ins kurze, brünette Haar gesteckt da und las in einem Buch. Vor ihr auf dem Tisch stand eine Tasse, aus der der Kaffee dampfte.
Hatte sie meine Blicke gespürt? Keine Ahnung, aber sie hob den Kopf, schaute mich mit klaren und durchdringenden Augen für einen Moment an. Mit einer eleganten Bewegung ließ sie das Buch auf den Tisch sinken und griff nach der Tasse. Inmitten dieser fließenden Bewegung nickte sie mir grüßend zu und hob dann die Tasse an ihren Mund. Ich grüßte auf die gleiche Weise. Der erste Gedanke der mir kam war, dass sie eine etwas spröde Schönheit ausstrahlte. Typ Lehrerin in einem Mädchengymnasium.
Ich ging an ihr vorbei zu meinem eigenen Tisch. Dabei gelang es mir einen Blick auf ihr Buch zu werfen. Und sie schämeten sich nicht, Joachim Fernaus Sittengeschichte der Deutschen. Ich kannte dieses Buch und wusste, dass es stellenweise voller prickelnder Erotik war, selbst wenn es nüchtern, wie ein Sachbuch daher kam. Ich musste grinsen. Bei welcher Beschreibung war sie gerade? Dachte sie darüber nach? Und wie dachte sie wohl generell über Sex? Sicher, wenn überhaupt, im Dunkeln und unter der Decke, als Pflichterfüllung und mit Widerwillen.
Ich grinste immer noch verstohlen, als ich wieder Platz nahm, diesmal aber so, dass ich sie sehen konnte. Inzwischen hatte sie wieder ihr Buch zur Hand genommen und schien nur noch daran interessiert zu sein. Ich beobachtete sie und machte mir so meine Gedanken. Wie alt war sie wohl? Nicht mehr jung, aber auch noch nicht in meinem Alter. Vielleicht Anfang, Mitte vierzig? Elegant gekleidet war sie und doch nicht zu auffällig. Einfach eine Frau, in der Blüte ihrer Jahre und dabei durchaus ansehnlich.
Schon längst hatte ich eine Zigarette geraucht und meinen Kaffee fast leer getrunken. Gerade überlegte ich, ob ich eine weitere Tasse bestellen sollte und unterstützte dieses Nachdenken mit einem Griff zu meinen Zigaretten. Da ließ mich eine Bewegung innehalten. War es tatsächlich so, oder schien es mir nur, dass sie mit dem lesen innehielt und dabei unbewusst mit ihrer Zungenspitze über ihre Lippen fuhr? Die Bewegung war so schnell geschehen, dass ich mir wirklich nicht sicher war.
Die nächste Bewegung sah ich deutlich. Sie legte ihr Buch auf den Tisch und bevor sie nach ihrer Tasse griff, streifte sie sich die Bluse glatt. Eine alltägliche Bewegung, aber im Kontext mit dem Buch das sie las, schien es mir, als wäre mehr hinter dieser Bewegung. Ich sah genauer hin. Tatsächlich, Nippelalarm! Und das nicht zu knapp. Nur mühsam konnte ich ein neuerliches Grinsen unterdrücken und ein unbeteiligtes Gesicht aufsetzen. Ihr Blick streifte mich, ohne auf mir zu verweilen. Dann trank sie einen Schluck und griff erneut nach dem Buch, um sich darin zu versenken.