Schließen Sie bitte die Tür ab, Lilli? Es ist kurz nach halb eins! Meine Chefin, Frau Roser-Klein sagte es von ihrem Schreibtisch herüber zu mir! Blöde Kuh, dachte ich, kannst du deinen fetten Hintern nicht selbst die paar Schritte bewegen? Aber dann dachte ich daran, dass endlich Mittagspause war. Selbstverständlich, Frau Roser-Klein. Ich drückte die Tasten Strg.-Alt Enf um meinen Computer zu sperren und sagte, schon auf dem Weg zum Steuertableau der Automatiktüren, ich gehe dann gleich in Mittag! Ich brauchte mich nicht umzudrehen um zu wissen, dass die alte Schachtel die eine Augenbraue hob und mir missbilligende nachsah.
Sollte sie. Ich war anders gestrickt als sie. Roser-Klein, mit dem schönen Vornamen Amalie gesegnet, lebte, um zu arbeiten. Ich arbeitete, um leben zu können. Und sobald Pause oder Feierabend war, vergaß ich den Betrieb und lebte mein Leben. Nicht dass ich kein Interesse an meiner Arbeit habe. Ich hatte mich um die denkbar beste Ausbildung bemüht, hatte nach Abitur und BA-Studium die betriebsinternen Möglichkeiten zur Weiterbildung konsequent ausgenutzt und mich höchstmöglich ausbilden lassen. Aber zur Zeit steckte ich in einer Sackgasse fest, was meine Karriere anging. Ich musst erst warten, bis eine adäquate Stelle für mich frei wurde. Solange verbrachte ich meine Zeit als kleine Beraterin einer Bankfiliale unter der Fuchtel von Roser-Klein.
Ach ja, noch etwas. Mein Vorname ist auch nicht besser, meine Eltern haben mich allen ernstes Lilian taufen lassen, genauer gesagt, Lilian-Marie. Und nun raten Sie mal, wie mich alle Welt nennt! Richtig geraten, war auch nicht sonderlich schwer, oder? Wobei, Lilli geht ja noch einigermaßen, aber bei Prinzessin, da muss ich schon sehr aufpassen, dass ich nicht ausraste. Prinzessin, dass darf nur einer zu mir sagen, mein Freund Rafael. Und wenn er es sagt, dann meist in ganz bestimmten Situationen!
Schon als ich zur Hintertür der Bank hinauslief, bewaffnet mit meinem Buch und dem kleinen Stoffbeutel, in dem ich mein Mittagessen hatte, war die Bank weit weg. Heute, das hatte ich spontan beschlossen, würde ich die ganzen 90 Minuten, die wir über Mittag geschlossen hatten, als Pause ausnutzen. Überzeit hatte ich genug, das Wetter war schön und die Roser-Klein unausstehlich. Noch mehr als sonst. Fünf Minuten später hatte ich mein Ziel erreicht.
In der kleinen, parkähnlichen Anlage verbrachte ich bei gutem Wetter so oft es ging meine Mittagspause. Normalerweise war um diese Zeit fast niemand hier. So auch heute, nur ein kleines Mädchen, vielleicht 4 Jahre alt, saß selbstvergessen auf einem Stein und backte Sandkuchen. Gegenüber dem Platz, den ich mir ausgesucht hatte, im Schatten eines Baumes saß ein Mann, offensichtlich der Vater der Kleinen, wie ich aus dem vor ihm stehenden Buggy schloss und blätterte in seiner Zeitung. Werder die Kleine, noch ihr mutmaßlicher Vater nahmen Notiz von mir.
Ich stellte die kleine Plastikschüssel mit Trauben und Käsewürfelchen in bequemer Entfernung neben mich auf die Bank, streifte meine Schuhe ab und war fast sofort in die phantastische Welt von Andreas Eschenbachers Die Haarteppichknüpfer versunken.
Lilli! Was machst du denn da? Die Frage ließ mich hoch schrecken. Wer hatte mich da angesprochen? Und vor allen Dingen, warum? Die Stimme war mir unbekannt. Vor mir stand die Kleine und sah sehnsüchtig zu meinen Trauben hin. Sie sagte nichts, sie tat nichts, sie starrte nur zu dem kleinen Schüsselchen. Ich sah wir ihr Vater zu uns herüber kam. Lilli, lass bitte die Frau in Ruhe! Jetzt stand er neben ihr und griff nach ihrer kleinen Hand. Entschuldigen Sie bitte! Sagte er in meine Richtung und zu seiner Tochter, Komm, wir gehen nach Hause! Doch die Kleine sah weiterhin zu meiner Schüssel hin.
Ich nahm die Schüssel von der Bank und sah den Vater an. Darf sie? Der nickte leise mit dem Kopf. Bitte schön! Klein-Lilli griff ohne zu zögern zu und steckte sich eine Traube in den Mund. Ihr Gesichtchen strahlte. So, jetzt ist aber gut! Komm, wir gehen! Die Kleine war anderer Meinung, riss sich los und ging wieder zu ihren Förmchen zurück, nachdem sie sich noch eine Traube in den Mund gesteckt hatte. Entschuldigen Sie bitte, murmelte der Mann, bevor er sich zu seiner Bank zurück begab und sich erneut seiner Zeitung widmete.
Auch ich nahm mir wieder mein Buch vor. Noch hatte ich höchstens zwei Seiten gelesen, als ich wieder gestört wurde. Zwei Hände legten sich über meine Augen. Ich schrak. Rate, rate, wer ist das? Ich entspannte mich. Hm. Mal sehen. Jochen? Pascal? Jerome? Ich zählte ein paar Namen auf, die mir gerade so in den Sinn kamen. Die Stimme hatte ich sofort erkannt. Rafael!
Na hör mal! Wie viele Männer kennst du eigentlich? Ach, es läppert sich so zusammen, mit der Zeit! Die Hände ließen mich los und dann saß Rafael neben mir. Wir küssten uns.
Ich gab alles Theater auf. Wo kommst du denn so plötzlich her? Ich hatte von einer Sekunde auf die andere eine unsagbar gute Laune. Rafael sah mich zärtlich an. Weißt du, heute ist nicht soviel los bei uns und da dachte ich, ich könnte mal nach dir suchen. Ich wusste ja, dass ich dich hier wahrscheinlich finden würde.
Rafael ist wissenschaftlicher Mitarbeiter im Institut für anorganische Chemie der hiesigen Universität und gibt Seminare für die Studierenden. Du konntest dich also von deinen Studentinnen losreisen? Ich meinte es nicht ernst. Rafael sah mich lächelnd an. Klar doch. Die wirklich interessanten Frauen, kommen erst heute nachmittag. Ich knuffte ihn in die Seite. Pass bloß auf! Dann küsste ich ihn.
Klar, dass ich mein Buch auf die Seite legte und mich an ihn kuschelte, als er seinen Arm um mich legte. Wir redeten nicht, sondern genossen es einfach uns so außerplanmäßig zu sehen. Plötzlich kam klein Lilli wieder angewackelt. Sofort hielt ich ihr die Schüssel wieder hin. Die Augen fest auf Rafael gerichtet, griff sie zögerlich zu. Rafael grinste sie an. Wer bist du denn? Die Kleine sagte kein Wort, also übernahm ich die Vorstellung. Das ist Lilli! Rafaels Grinsen wurde noch breiter. Noch eine Lilli! Heute ist mein Glückstag. Die Kleine sagte kein Wort. Plötzlich drehte sie sich um und tippelte in Richtung ihres Vaters.
Süße Maus! Meinte Rafael und sah ihr nach. Er zog mich etwas näher an sich heran und plötzlich spürte ich, wie sich sein Daumen sanft auf eine meiner Brüste legte und ganz vorsichtig bewegte. Ob wir auch mal so einen Sonnenschein haben? Das war das erste Mal, das Rafael das Thema Kinder ansprach. Möchtest du denn? Ich war mir durchaus seiner Berührung bewusst und hätte gern mehr davon gehabt.
Ich habe nie darüber nachgedacht. Aber wenn ich die Kleine so sehe und mir überlege, dass du deine Schönheit an ein kleines Mädchen weiter gibst, dann bin ich versucht zu sagen, dass es schön wäre, eine kleine Lilli zu haben! So sehr ich mich darüber freute, ich hatte meine Einwände. Es ist ja nicht gesagt, dass es ein Mädchen wird. Und ob es dann auch so niedlich ist, weiß man auch nicht. Rafaels Berührung wurde etwas intensiver. Egal, ob Mädchen oder Junge, Hauptsache von dir. Und was das niedlich sein angeht, da heißt es halt üben, üben, üben! Und wieder verstärkte sich sein sanftes Streicheln.
Ich drehte meinen Kopf und lächelte ihn an, bevor ich ihn küsste. Ich habe nichts gegen ein paar Übungseinheiten einzuwenden. Ich meinte es, wie ich es sagte. Ich hätte jetzt schon nichts gegen eine intensivere Übung gehabt. Ich spürte, dass mich seine Berührung in Fahrt brachte. Ich auch nicht! Vielleicht sollten wir heute abend nicht ins Kino gehen und lieber üben! Ich kuschelte mich fest in seinen Arm. Schweigend saßen wir da und ich genoss Rafaels unaufdringliche Zärtlichkeit.
Klein Lilli sieht wirklich zum anbeißen aus. Diese niedlichen kleinen Zöpfchen, das süße gelbe Kleidchen. Wart mal, wenn die das entsprechende Alter hat, da werden die Jungs Schlange stehen. Das kann schon sein! Wie war das eigentlich bei dir? Rafael sah mich interessiert an. Ja, wie war das eigentlich bei mir gewesen? Ich zuckte mit den Schultern Weiß ich nicht mehr so genau. Aber wenn ich darüber nachdenke, waren da gar nicht so viele. Wers glaubt, wird selig! Kam es trocken von der Seite. Na ja, einige waren da schon! Siehst du?
Der Vater von Klein Lilli stapfte durch den Sand zu seiner Tochter hin, sammelte Förmchen, Eimer, Rechen und Schaufel ein und nahm seine Tochter an der Hand. Erst widerstrebend, dann aber doch folgsam, ging sie mit ihm zu seiner Bank, kletterte, wohl ohne Aufforderung in ihren Buggy und ließ sich von ihrem Vater nach Hause zu Mittagessen und vermutlich Mittagsschlaf fahren. Reflexmäßig sah ich auf die Uhr Zehn Minuten vor zwei. Ich musste mich beeilen. Wann kommst du heute Abend zu mir? Rafael überlegte kurz. Das Seminar geht bis 17.00 Uhr. Ich fahr dann noch schnell bei meinen Eltern vorbei. Sagen wir so gegen 20.00 Uhr? Ich nickte. Soll ich was zu essen richten? Er lächelte. Wegen mir nicht. Du weißt doch, meine Mutter wird sicher wieder denken, ich hätte seit Tagen nichts gegessen und mich zum Essen nötigen Oh ja, so gut kannte ich Elisabeth, dass ich das sofort glaubte.
Wir küssten uns zum Abschied und gingen dann in unterschiedlicher Richtung davon. Es war eine wirklich wunderschöne Mittagspause gewesen. Ich hatte zwar kaum was gegessen und nur wenige Seiten gelesen, aber ich hatte immerhin unverhoffte Zeit mit Rafael verbringen dürfen. Und ich hatte ein Versprechen. Sie wissen schon, üben, üben, üben!
Pünktlich um 14.00 Uhr saß ich an meinem Schreibtisch. Frau Roser-Klein hatte mich missbilligend angesehen, aberdas war mir so etwas von egal. Wir hatten Gleitzeit und da ich keine Termine hatte, konnte es ihr doch egal sein, wie lange ich Mittag machte, Hauptsache, ich war pünktlich zurück.