Ein Zwiespalt der Gefühle ging in mir hin und her. Auf der einen Seite hatte ich zu nichts weniger Lust, als aufzustehen, auf der anderen Seite war das Signal meiner Blase nicht überhörbar. Ich gab den Kampf verloren, mühte mich im Halbdunkel aus dem Bett und schlich mich zur Toilette. Kein weiter Weg, aber ein Überflüssiger, im wahrsten Sinne des Wortes.
Die Augen nur einen schlitzweit geöffnet, schlich ich mich zurück in mein Bett. Für einen Moment noch am Rand sitzend, linste ich zu den grünlich leuchtenden Ziffern des Radioweckers. 05.10 Uhr. Genau die Zeit, zu der ich sonst immer aufstand. Dämliche Konditionierung. Ich ließ mich in meine Kissen fallen, verfluchte Getränke und überhaupt alles, schloss die Augen und bemühte mich, ins Land der Träume zurück zu finden.
Nicht dass ich angenehme Träume gehabt hätte. Wenn man alleine lebt und das tat ich nun seit etwa 3 ½ Jahren, verlieren bestimmte Dinge an Bedeutung und andere gewinnen logischerweise. Zu den Gewinnern zählt die Freiheit tun und lassen zu können, was man will. Aufstehen, ins Bett gehen, essen, trinken. Weg gehen, zu Hause bleiben, all das sind Dinge, die mehr oder weniger nur noch dem eigenen Willen unterliegen und sich deshalb freizügiger gestalten lassen, als vorher.
Zu den eindeutigen Verlierern zählen essen und schlafen. Nicht mehr an Regeln gebunden, verkommen sie zur Nebensächlichkeit, zum Muss, zur Pflicht und nicht mehr zur allgemeinen Lebensfreude. Und dennoch, wenn man jeden Tag früh raus muss, dann will man die kleine Freiheit ‚Ausschlafen’ genießen, wann immer es geht. Das Wochenende, eigentlich eine perfekte Kulisse dafür.
Eigentlich, denn der gestrige Samstag war geprägt von den ‚hausfraulichen’ Arbeiten, denen ein alleine lebender Mann nun eben auch unterworfen ist, will er nicht im Chaos aus ungespülten Tassen und Tellern und ungewaschener, ungebügelter Wäsche ertrinken. Außerdem braucht auch Mann Vorräte, selbst wenn er sich nicht jeden Tag ein Essen kocht.
Also war einkaufen angesagt. Früh morgens, als noch nicht soviel auf den Straßen los war und die Wochenendeinkäufer noch fast alle im Bett lagen, oder beim Frühstück mit ihren Lieben am Tisch saßen. Drei Geschäfts später, alle Einkäufe im Klappkorb, einschwenken auf den großen Parkplatz. Ein Blick auf die Uhr, gut! 10 Minuten vor Neun. Um Neun Uhr öffnet der Friseur. Ein kurzer Fußmarsch und Glück gehabt. Nur eine Dame stand vor der noch verschlossenen Tür.
09.30 Uhr war ich wieder draußen und fuhr nach Hause. Jetzt war die Wäsche dran. Und die Wohnung. Zwischendrin noch das eine oder andere Telefongespräch, ein paar E-Mail und dann war endlich auch für mich Wochenende. Gerade noch rechtzeitig um die Sportschau einzuschalten.
Ich bin Martin Hager, im März gerade 50 geworden, getrennt und deshalb alleine lebend, eine erwachsene Tochter, von Beruf Bankkaufmann. Sonst gibt es über mich nicht viel zu berichten.
Wie immer, wenn ich es mir vor dem Fernseher gemütlich mache, bekam ich Hunger. Chips und Bier zum Fernsehen hatte ich mir schon lange abgewöhnt und versuchte deshalb, das Gefühl zu unterdrücken. Noch war die Sportschau nicht interessant. Die 3. Liga ist nicht so mein Ding und mein Heimatverein aus der 2. Liga hatte sein Schicksalsspiel noch vor sich.
Der Hunger blieb und ich richtete mir aus den beiden restlichen Brotscheiben und einigen Karottenstiften ein frugales Abendessen zusammen. Lukullische Genüsse hatte ich mir, Sie ahnen es, weitestgehend abgewöhnt. Andere Genüsse im übrigen auch.
Der Abend nahm seinen Lauf, die Bundesliga war mehr oder weniger interessant. Nachrichten, Wetter – keine schönen Aussichten für Sonntag -, alles in allem ein Samstag, wie so viel vorher. Das Fernsehprogramm war, gelinde gesagt, suboptimal und ich quälte mich durch eine Komödie, die von Minute zu Minute verlor. Gegen halb zehn kapitulierte ich vor meine Müdigkeit. Wenig später lag ich im Bett und las noch ein paar Kapitel.
Der Schlaf tat mir gut, wenn mich auch die Unzulänglichkeiten meines Körpers ärgerten. Die zwei Glas Rotwein am Abend, bereute ich jetzt bitter. Ohne sie, hätte ich sicherlich durchgeschlafen.
Der Radiowecker riss mich aus meinem Halbschlaf. Wieder linste ich zu ihm hin. Halb acht. Warum um alles in der Welt sollte ich aufstehen? Doch dann fiel es mir wieder ein. Mein Vater hatte mich zum Frühstück geladen. Na ja, geladen. Es war mehr ein unmissverständlicher Befehl. „Du kommst doch morgen zum Frühstück!“ Wie hätte ich ‚nein’ sagen können, wenn ich so lieb gebeten wurde? Am Nachmittag hatte er noch einmal angerufen. „Also, dann morgen um halb neun! Bitte bring ein paar Brötchen mit!“ Aber sicher doch, das tat ich doch immer, wenn ich diese ‚Einladung’ nicht umgehen konnte.
Aufstehen, duschen, Zähne putzen. Auf die Rasur verzichtete ich. Mein kleines Aufbegehren meinem Vater gegenüber, der, inzwischen schon seit vielen Jahren pensioniert, am Sonntag immer noch wie aus dem Ei gepellt, mit Anzug und Krawatte herum lief. Ich nicht! Das hatte ich die ganze Woche über. Sonntag war bequem, war leger, war locker, war ‚casual day’.
Trotz der Einladung zum Frühstück, trank ich noch die eine oder andere Tasse Kaffee, auch das gehörte für mich zum Sonntag dazu. Kaffee in aller Ruhe auf dem Balkon, egal, wie das Wetter war. Im übrigen, die Wetterfrösche hatten recht behalten. Kalt, nur etwas 8 Grad, leicht windig und immer wieder Regen. Dreckswetter, zu schueßlich, um vor die Tür zu gehen.
Wenig später holte ich das Auto aus der Garage und machte mich auf den Weg. Noch nichts los, auf den Straßen. Dafür um so mehr in der Bäckerein. Eine lange Doppelschlange rückte nur langsam vorwärts. An den Damen hinter der Theke lag es bestimmt nicht. Zu dritt wuselten sie hin und her und erfüllten die Wünsche der Kunden. Und was für Wünsche das waren. Obwohl jeder doch wirklich lange genug auf die Auslagen starren konnte, stotterten die meisten herum, wenn sie dran waren.
„Zwei Sesam- und ein Laugenbrötchen! Oder nein, lieber ein Körnerbrötchen, einen Laugenknoten und ein Croissant.“ Die Verkäuferin packte alles in ein Körbchen und begann zu tippen. „Ach Fräulein, doch lieber ein Laugencroissant anstelle des Buttercroissant!“ Also, Storno und die Tüte ausräumen.
Dann die älteren Damen die für den Nachmittagskaffee ihre Torten orderten. „Zehn Stücke werden es!“ Und dann die Überlegungen, ob lieber Käsekuchen, oder Käsesahnetorte. Oder Herrentorte? Oder doch lieber ein wenig Obsttorte, wegen der Kalorien? Nur sehr, sehr langsam kam die Schlage vorwärts.
Ich brauchte nicht zu überlegen, was ich wollte. Das war immer das Selbe, wenn ich zu Papa fuhr. Ich versuchte meine Ungeduld zu zügeln. Nicht dass ich es eilig gehabt hätte zu meiner Verabredung zu kommen, aber diese sinn- und tatenlos verbrachte Zeit war nicht nach meinem Geschmack. Ich beobachtete, um mich abzulenken, das ‚Ballett’ der Verkäuferinnen. Viel Platz hatte sie ja nicht, zwischen Theke und den Regalen und mehr als einmal rechnete ich damit, dass sie sich ins Gehege kommen würden.
Die eine, die Blonde, die kannte ich. Schon ein wenig älter, aber immer noch topfit, schien sie den Ton anzugeben. Geduldig nahm sie die Wünsche ihrer unentschlossenen Kundschaft entgegen und erfüllte sie mit sparsamen Bewegungen. Auch die kleine Türkin kannte ich vom sehen. Noch ziemlich jung, strahlte sie doch eine gewisse Selbstsicherheit aus. Da saß jeder Griff und die offensichtlich komplizierte Kasse beherrschte sie perfekt.
Nicht ganz so die Dritte im Bunde. Nicht mehr ganz jung, aber offensichtlich neu, fragte sie fast jedes Mal, welche Nummer denn dies, oder das habe, rutschte das eine oder andere Mal in die falsche Bedienerzone und fand nicht mehr heraus. Klar waren ihre Bewegungen etwas fahriger, aber sie blieb freundlich und lächelte viel. Trotzdem merkte man, dass sie angespannt war. Immer wieder schob sich ihre kleine Zungenspitze zwischen ihre Lippen, vor allen Dingen dann, wenn sie die Kasse bediente. Ich fand, dass das nett aussah.
Überhaupt, diese Frau hatte etwas, nur konnte ich nicht sagen, was mich so beeindruckte. Die Schlange hatte sich langsam weiterbewegt, ich stand jetzt vor der Theke, war also näher dran. Alle drei Frauen trugen das gleiche, hellleuchtende gelbe T-Shirt, die gleich braune und fast bodenlange Schürze. Jede hatte ein Namensschild, das Vor- und Zuname zeigte und jede trug es über der linken Brust. Als ich noch näher heran kam sah ich, dass sie Alena Bauer hieß.
Ich sah ein niedliches Gesicht, das wenig geschminkt war, dunkle Augen die einen starken Glanz hatten. Ich sah die lustige Strähne ihres ansonsten zu einem Pferdeschwanz gebundenen, braunen Haars, die ihr immer mal wieder ins Gesicht hing von ihr mit einer unvergleichlich schönen Bewegung aus der Stirn geschoben wurde.
Schlank war sie und soweit man es sehen konnte, bewegte sie sich ziemlich graziös. Wie alt sie war, konnte ich nicht sagen. Sie konnte die Dreißig überschritten haben, aber auch erst Mitte zwanzig sein. Oder älter? Man sah es ihr einfach nicht an. Ich war so damit beschäftigt, sie anzusehen, sie zu beobachten, dass ich gar nicht bemerkte, dass mich die ältere Verkäuferin ansprach. Ich nahm mich zusammen, gab meine Bestellung auf, bezahlte und ging. Nicht ganz ohne Bedauern, dass ich nicht mit der Neuen gesprochen hatte.
Kurz vor dem Haus meines Vaters fiel mir auf, dass ich zwar Brötchen fürs Frühstück, aber leider kein Brot für mich gekauft hatte. Egal, ich würde auch einmal einen Tag ohne Brot auskommen. Außerdem, bestimmt würden Brötchen übrig bleiben und die konnte ich ja für mich mitnehmen.
Dann erlebte ich eine Überraschung. Mein Vater war nicht alleine. Wie selbstverständlich ging da eine Frau hin und her, die ich nicht kannte. Mein Vater stellte uns vor. „Das ist mein Sohn Martin und das ist Anneliese, eine Bekannte.“ Aha, eine Bekannte. Ich war ziemlich desinteressiert, auch dann noch, als ich den Worten meines Vaters entnahm, dass diese Anneliese wohl über Nacht hier gewesen war. Sollte sie, mir war das reichlichlich egal.