Mit einem leisen plopp war die Tür ins Schloss gefallen. Jetzt stand ich für einen Moment auf der Straße vor dem Haus. Ich wusste genau, dass mein Vater mir durch die Gardinen seines Arbeitszimmers nachsah. Das war so selbstverständlich, wie die Frage: hast du alles, Kleines? Diese Frage hatte mich in den Kindergarten begleitet, in die Schule, ja selbst wenn ich mich, als ich älter geworden war, mit meinen Freunden getroffen hatte, hatte mich diese Frage noch vor der Haustüre eingeholt.
Damals wie heute, empfand ich diese Frage als Einmischung in mein Leben. Mehr als einmal war ich in jungen Jahren versucht gewesen, meinem Vater darauf eine mehr als deutliche Antwort zu geben. Klar habe ich alles, selbst an Kondome habe ich gedacht! Aber diese Antwort aus dem Mund der kaum flügge gewordenen Tochter, hätte ihn seine Welt zusammenbrechen sehen lassen. Dabei wäre die Antwort sogar wahr gewesen. Nur, gebraucht hätte ich sie damals nicht. Aber ein Mädchen, das damals in seiner Clique angesehen sein wollte, musste einfach Kondome mit sich führen und damit beweisen, dass es eine Frau war.
Ich wage die Behauptung, dass damals, also, als wir alle so etwas siebzehn, achtzehn waren, nicht eine von uns schon Erfahrungen hatte. Das schloss nicht aus, dass die eine oder andere fahrige Finger an Stellen gespürt hatte, die sie im allgemeinen verbarg, oder selbst mit zitternden Fingern entdeckt hatte, was es für wundersame Verwandlungen möglich waren.
Für mich war das alles erst viel später gekommen. Zu einer Zeit, in der ich zwar noch zu Hause wohnte, aber mein eigenes Leben führte, nämlich während meines Studiums. Da gab es die ersten richtigen Männerbekanntschaften, da gab die Abende, an denen man sich beim Freund traf, um weg zu gehen, zum Beispiel auf den legendären Medizinerball und an denen man dann doch nicht aus der Wohnung kam. Genauer gesagt, aus dem Bett.
Und trotzdem. An beinahe jedem Morgen und an häufig am Abend, die Frage meines Vaters, am Fuß der Treppe gestellt, die Hand auf dem Knopf des Handlaufes gelegt: hast du alles, Kleines? Das hatte erst dann aufgehört, zur täglichen Routine zu gehören, als ich endlich ausgezogen war. Das Studium war beendet und mein PJ begann. In der Inneren Medizin II einer großen Universitätsklinik im Süden des Landes, gerade mal etwa 200 Kilometer von zu Hause weg.
Dieser Umzug hatte mir gut getan, weil er mich selbstständig machte. Keine kontrollierenden Eltern mehr, Verantwortung für sich selbst und das was man tat, oder unterlies. Die Arbeit machte mir Freude und ich fand neue Freunde unter meinen Kollegen, aber auch an anderen Stellen. Und ich traf Jörg!
Jörg! In einer Kneipe, die wir nach dem Dienst für ein Glas Wein nach Feierabend aufsuchten, saß er an einem Tisch und starrte Löcher in die Luft. Alle anderen Tische waren belegt, nur an seinem Tisch saß er alleine und hatte noch fünf Plätze frei. Mona fragte ihn, ob wir uns setzen dürften und wir durften. Der Zufall wollte es, dass ich neben ihm zu sitzen kam, doch war das ohne Bedeutung.
Haben Sie schon mal eine Horde Mediziner an ihrem Tisch gehabt? Nein? Dann seien sie froh. Das ist eine echte Herausforderung! Es dauert nämlich keine zehn Minuten, dann fangen die an, sich über ihren Beruf zu unterhalten! Und das in allen Details. Wir also auch! Vier junge Frauen, den Kopf noch voll des am Tag erlebten. Die eine hatte ihren ersten ZVK alleine geschoben, die andere hatte vielleicht alleine, unter den wachsamen Augen des Oberarztes, eine Hernie operieren müssen und was es da noch so alles für Erlebnisse gab. Natürlich wurde, man war ja Fachfrau, mit Fachausdrücken nicht gespart und die Schilderungen waren natürlich für die Ohren eines Mediziners bestimmt.
Jörg war keiner! Jörg war, wie ich später herausfand, ambitionierter Banker. Klar hörte er uns zu, blieb ihm ja auch nichts anderes übrig. Und es wurde ihm schlecht, als Doris davon sprach, den Haken falsch gesetzt und dadurch eine Arterie verletzt zu haben. Das hat vielleicht gespritzt. Ich bin so was von erschrocken, aber ich habe mir auch das Lachen verkneifen müssen. Der Meißner war total versaut!
Schnell hatte Jörg sein Bier leer getrunken und war abgehauen. Uns war es gleichgültig, wir kannten ihn ja nicht.
Etwa eine Woche später hatte ich mich mit Sybille verabredet. Treffpunkt war unsere Stammkneipe. Da ich eine halbe Stunde zu früh war, setzte ich mich an die Theke und bestellte mit eine Cola. Ich wollte keinen Vorsprung vor Sybille. Noch war nicht viel los in der Kneipe. Nur vereinzelt saßen Pärchen an den Tischen, hielten Händchen und plauderten angeregt. Am anderen Ende der Theke saß ein junger Mann, als ich mal zu ihm hinsah, prostete er mir zu und rief mir über die zwei Meter etwas zu. Wie bitte? Ich hatte ihn nicht verstanden. Er stand auf, ließ aber sein Glas stehen und kam mir entgegen.
Jörg! Stellte er sich vor. Ich wollte nur sagen, dass ich froh bin, dass sie sich heute nicht zu mir setzen müssen. Dann kann ich in Ruhe mein Bier trinken! Wie war der denn drauf? Eigentlich war das schon eine Frechheit. Was wollte der denn? Ich kannte ihn nicht und überhaupt, warum sollte ich mich zu ihm setzen? Hast du einen Knall? Mein Gott war ich mutig! Was fällt dir ein, mich so dumm anzumachen! Verzieh dich auf deinen Platz und lass mich in Ruhe!
Gleich! Aber ich muss dir noch was sagen. Wenn du mit deinen Freundinnen unterwegs bist, solltet ihr daran denken, dass sich normale Menschen einen Dreck um eure ach so wichtige Arbeit in OP und auf Station interessieren. Manche ekeln sich nämlich auch davor. Ich zum Beispiel Ich finde es eine Frechheit, ohne Rücksicht auf andere, solche Sachen zu erzählen. Und außerdem, wo bleibt die Achtung vor dem Patient? Nee, in eure Finger will ich lieber nicht fallen! Sprachs drehte sich um und ging auf seinen Platz zurück.
Und ich? Ich war eingenordet! Als er seine Anklage vorbrachte, erkannte ich ihn wieder und als ich darüber nachdachte, musste ich ihm recht geben. Offene Bäuche und sonstige unschöne Begleiterscheinungen unseres Berufes, waren nicht für jedermann erträglich. Deutlich ruhiger, aber mit hochrotem Kopf saß ich da und beobachtetre, dass Jörg bezahlte und ging. Ich hatte nicht den Mut, etwas zu ihm zu sagen.
Aber ich traf ihn wieder. Etwa zwei Wochen später. Und wieder in der Kneipe. Diesmal war ich zuerst da gewesen und wartete.... genau, auf Sybille. Er kam, sah mich und setzte sich weit von mir weg. Ich kämpfte mit mir, erwog für und wider und gab mir schließlich doch einen Ruck. Mit meinem Glas in der Hand, dass ich mich an etwas festhalten konnte, ging ich zu ihm und setzte mich ohne ein Wort neben ihn. Er machte keine Bewegung, sagte keinen Ton, sah nicht einmal zu mir herüber.
Kann ich mit dir reden? Nur aus den Augenwinkeln sah ich, dass er langsam nickte! Und doch dauerte es eine Weile, bis ich den ersten Satz raus hatte. Du hattest recht! Wieder nickte er nur und trank einen Schluck au seinem Glas. Ich habe darüber nachgedacht und auch mit meiner Freundin darüber gesprochen. Immer noch keine richtige Reaktion! Was du gesagt hast, hat mich zum Umdenken veranlasst. Oder besser zum nachdenken! Ich werde in Zukunft aufpassen wann ich etwas sage und wo! Wieder nickte er! Mehr Antwort gab es nicht. Also stand ich auf. Sybille würde eh bald da sein. Andreas, mach der Dame mal eine Bloody Mary. Sie ist nämlich eine Frau Doktor und kann nicht abschalten. Dann schaute er zu mir her und grinste über das ganze Gesicht.
Stimmt doch? Du kannst selbst abends nicht abschalten, wenn du Feierabend hast. Ich blieb stehen, wusste nicht, was ich tun sollte. Setzt dich doch, Frau Doktor! Und als ich es dann zögerlich tat, Hast du auch einen Namen, oder muss ich weiterhin Frau Doktor sagen? Maria, sagte ich, genau in dem Moment, als mein Drink vor meine Nase gestellt wurde. Passt doch! Meinte Jörg und prostete mir zu.
Und dann war da wieder so ein Zufall. Sybille konnte nicht kommen. Sie schickte mir eine SMS, dass es länger dauern würde. Sie hätten ein Polytrauma mit dem Hubschrauber bekommen und Bermann hätte ihr erlaubt, mit dabei zu sein, wenn sie sich daran machen würden, den Motorradfahrer wieder zusammen zu flicken. Nicht zum ersten Mal war ich froh darüber, dass ich die innere Medizin als mein Fach gewählt hatte.
Also blieb ich mit Jörg sitzen. Oder eigentlich nicht, wir setzten uns nämlich an einen Tisch und redeten miteinander. Jörg war neugierig, aber auch ich erfuhr eine ganze Menge über ihn. Irgendwann fragte er mich, wie so nebenbei, was denn mein Freund zu meinem Beruf sagen würde. Nichts! Warum auch! Das ich zur Zeit keinen Freund hatte, ging ihn nichts an!
Es war so gegen 23.00 Uhr, als wir aufbrachen. Vor der Tür des Lokals standen wir noch einige Zeit zusammen und redeten. Ehrlich gesagt, wollte ich wissen, ob wir uns wieder einmal treffen würden. Jörg war irgendwie interessant. Aber wie immer, traute ich mich nicht, ihn zu fragen. Doch auch Jörg schien irgendwie seltsam gehemmt zu sein.
Ihr kommt wohl öfter hier her, oder? Ich nickte. Ich auch. Am Donnerstag zum Beispiel! Ausdruckslos sah er mich an. Ich kann am Donnerstag nicht. Da hab ich Spätdienst. Aber am Freitag? Mir kam gar nicht in den Sinn, dass es keine Frage gewesen war, die er mir gestellt hatte. Freitag! Um 20.00 Uhr? Ich nickte. Ich freue mich! Jörg gab mir die Hand. Ich mich auch! Jörg ließ mich nicht los. Eine Frage noch, wenn du gestattest! Ich sah ihn fragend an. Doch Jörg brauchte noch einen Moment, um sich zu sammeln. Was kam jetzt?