Am späten Nachmittag erreichten wir den Ausgangspunkt und somit auch den Endpunkt unserer Tour. Die letzte Gelegenheit, noch ein paar Worte mit Monika zu wechseln und vielleicht Klarheit zu bekommen. Doch wieder unterlief sie jeden Versuch, mich ihr zu nähern. Ich habe keine Ahnung ob die anderen bemerkten, dass sie sich von mir als einzigem nicht verabschiedete. Und dann stand ich plötzlich alleine in dem Hof der kleinen Pension, in der ich für zwei Wochen Quartier bezogen hatte. Anton, unser Guide, fuhr eben mit seinem alterschwachen Hänger, auf dem er die Leihräder verstaut hatte, knatternd vom Hof.
Langsam schleppte ich mich auf mein Zimmer. Die ungewohnten Bewegungen der zweitägigen Radtour hatten doch Spuren hinterlassen. Kein Wunder, wenn man sonst den ganzen Tag am Schreibtisch sitzt.
Eine ausgiebige und vor allen Dingen heiße Dusche, weckte meine Lebensgeister wieder und schließlich machte sich der Hunger bemerkbar. Also ging ich in die Gaststube zurück, ließ mir einen Schmorbraten mit Spätzle servieren und genoss ein kühles, frisch gezapftes Bier dazu. Es war voll in der Gaststube und somit auch ziemlich laut, sodass ich zu sehr abgelenkt war, um mich mit den Gedanken über die vergangen zwei Tage zu widmen.
Dies geschah erst, als ich mich mit einem weiteren Glas, diesmal allerdings nur mit Apfelsaftschorle, in den stillen Garten in die Abendsonne setzte. Gemütlich zurück gelehnt, eine Pfeife rauchend, fixierte mein Blick das beeindruckende Panorama der Alpen. Jetzt bahnten sich meine Gedanken ihren Weg und führten mich zurück an den Tag, an dem ich, spät abends im Büro, entschieden hatte, dass ich eine Auszeit brauchte.
Über ein Jahr lang hatte ich mich mit der Insolvenz eines mittelständischen Maschinenbauers herumgeschlagen, hatte versucht Außenstände herein zu bekommen, hatte mit den Banken erbitterte Gefechte um neue Kredite geführt, hatte Gläubiger zur Geduld bekniet, hatte mit dem Betriebsrat einen Sozialplan verhandelt und schließlich die Insolvenz ohne eine vollständige Zerschlagung des Betriebes über die Bühne gebracht. Von den 249 Arbeitsplätzen hatte ich immerhin 199 retten können. Ein schwacher Trost für die 50 Menschen, die gehen mussten.
Der Bericht war geschrieben, das zuständige Amtsgericht hatte mich als Insolvenzverwalter aus der Verantwortung entlassen und ich war endlich frei. Eigentlich frei für neue Aufgaben, aber ich brauchte erst einmal Ruhe, Zeit für mich selbst.
Kurz entschlossen, rief ich noch am Abend in der Pension an, in der ich für gewöhnlich solche Auszeiten nahm. Zu meiner Freude war ein Zimmer frei und ich buchte spontan für 2 Wochen. Am nächsten Morgen hatte ich meinen Partner aufgesucht und ihm mitgeteilt, das ich für zwei Wochen Urlaub nehmen würde. Das Handy würde ich auslassen. Er nickte nur und wünschte mir gute Erholung. Zwei Stunden später war ich auf der Autobahn.
Gemächlich meinem Ziel entgegen fahrend, spürte ich mit jedem Kilometer den ich hinter mich brachte, die Anspannung nachlassen. Als ich schließlich am Nachmittag ankam, war ich so entspannt, dass mich auch die Tatsache nicht ärgerte, dass ich wieder einmal die Hälfte vergessen hatte. Zahnbürste und Zahncreme. Und natürlich auch wieder einmal meine Papiertaschentücher. Also ging ich gemütlich in den Ort hinunter, besorgte mir das Nötige im Drogeriemarkt und genoss den Spaziergang, der mich gerade rechtzeitig zum Abendessen in die Pension bringen würde.
Die erste Tage tat ich nicht viel mehr als ausgiebig schlafen. Die wenige übrigen Zeit, saß ich Garten und las. Ich hatte mir mal wieder Der Herr der Ringe vorgenommen und genoss es, in die phantastische Welt von Tolkins Gedanken und in Mittelerde einzutauchen. Erst nach knapp einer Woche war ich willens und fähig, etwas mehr zu tun.
Und dennoch hatte die Wirtin Mühe mich davon zu überzeugen, dass die von der Kurverwaltung des Ortes organisierte Radtour mit Übernachtung im Heuschober für mich das Richtige wäre. Lange zögerte ich und zierte mich, dann gab ich dem Drängen der guten Frau nach und ließ mich vormerken.
Ungläubig staunend betrachtete ich mir am nächsten Morgen meine Mitstreiter. Da waren Norbert und seine Frau Rike. Schon ihr Habitus, mehr noch aber ihre Sprache ließen erahnen, dass sie aus dem friedensbewegten und ökokorrekten Umfeld waren. Auch ihre beiden Mädchen Norma und Frida ließen keinen Zweifel daran. Selbstverständlich hatten sie ihre eigenen Räder und den Hänger dabei und es bestand kein Zweifel, dass die Räder ihr bevorzugtes Fortbewegungsmittel waren.
Dann waren da noch Gundula in ihrem zitronengelben Raddress, der ihr weder stand noch passte und Bertram, ihr Ehemann, mit schriller Stimme Berti gerufen, ganz in grau gekleidet.
Tobias, Wolf und Sven vertraten die Jungmännerfraktion. Kaum angekommen, bemühten sie sich um Kontaktaufnahme zu Sarah und Laura, die in etwa in ihrem Alter waren.
Und dann war da natürlich noch Gitta. Offensichtlich schon bei Geburtstag 40 ff angekommen, aber angezogen, als sei sie die jünger Schwester von Sarah und Lara. Völlig verblüfft, aber auch irgendwie fasziniert betrachtete ich dieses Wesen von einem anderen Stern und stellte Überlegungen an, wie ich mich aus der Gefahrenzone bringen konnte. Denn eines war klar. Sollte diese Frau einmal tief einatmen, würde sie mit ihren Knöpfen schießen können. Zum Glück war aber auch Egon mit von der Partie. Offensichtlich nicht die hellste Kerze auf der Torte, aber durchaus bereit, die Gefahr auf sich zu nehmen. Er umbalzte sie auf eine Art, dass ich mich mehr als einmal wegdrehen musste um mein Lachen nicht zu deutlich zu zeigen.
Bei einem dieser Versuche entdeckte ich Monika. Sie war die letzte im Bunde der Mutigen. Alles an ihr war Durchschnitt. Ihre Kleidung, ihre Art wie sie sich gab und ihre Sprache. Ich registrierte sie als vorhanden und gut war.
Anton, unser Guide, hielt eine launige Rede und scheuchte uns vom Hof. Nach und nach ergab sich eine Marschkolonne, bei der durchaus zu beobachten war, dass die Jungs und Mädels sich zu einer Gruppe zusammen geschlossen hatten, bei der es hoch her ging. Die hatten ganz offensichtlich ungezwungen ihren Spaß. Allerdings konnten die Jungs bei den Mädels nicht so intensiv landen, wie sie sich das wohl gewünscht hätten.
Gundula hatte ihre Berti von Gitta zurück gepfiffen und schaute mit bösem Blick zu ihr hin. Egon witterte seine Chance, blitzte aber ab, da sich Gundula lieber mit Anton unterhielt und ihn beflirtete. Auch Monika blieb bei seinen Avancen standhaft, wie sie überhaupt kaum mit jemanden sprach. Immer den Kopf über den Lenker gebeugt, strampelte sie mal vor Anton her, oder ließ sich zurück fallen. Norbert und Rike waren sich selbst genug und hatten mit ihren Kindern zu tun. Blieb also ich übrig. Ich war wohl der einzige, der einen Blick für die Schönheit der Landschaft hatte.
Zu Mittag machten wir Rast auf einem Bauernhof. Die Kinder bekamen frische Milch und auch Norbert und Rike gaben sich damit die Kante. Egon wollte ein Bier, bekam es nicht und wurde stinkig. Die Jugendgruppe sonderte sich etwas ab, hörte Musik und spielte Karten. Gundula und Bertram lagen im Gras und versuchten zu schlafen während Anton und Gitta nicht zu sehen waren.
Ich war ein paar Schritte gegangen und hatte mich unter einen Baum gelegt. Meine Beine und auch mein Po waren der Meinung, sie würden eine Pause brauchen. Von Monika war nichts zu sehen, aber als es weiter gehen sollte, war sie als erste auf dem Rad.
Als wir am Abend am Ziel unserer Reise ankamen, waren wir alle, mit Ausnahme von Anton, Norbert und Rike und vielleicht Monika, ziemlich am Ende. Die Kinder wurden im Hänger auf die Seite gestellt, bis sie zum Essen gerufen wurden. Anschließend bezogen wir die Scheune und erhielten die Anweisung uns jetzt schon in die Jogginganzüge zu werfen, da der Abend voraussichtlich lang werden würde. Mir schwante Fürchterliches
Richtig. Anton befahl Lagerfeuerromantik. Mit allem was dazu gehörte. Stockbrot für die Kinder und gitarrenbegleitetes absingen alter Fahrtenlieder aus der guten, alten Mundorgel.
Ich schüttelte mich innerlich und verweigerte das mitsingen.
Als Anton mal die Gitarre weg legte, griff Monika danach, stimmte sie endlich durch und begann mit geschlossenen Augen herum zu klimpern. Durchaus gekonnt und absolut nicht vergleichbar mit dem was Anton geboten hatte. Ich fragte mich, welche Töne sie wohl einem guten Instrument entlocken konnte. Doch der Genuss war bald vorbei. Der Ältestenrat, bestehende aus Bertram und Gundula, verlangte nach deutschem Liedgut. So weit, so schlecht.
Als es dann so gegen 23.00 Uhr zu ging, wurde endlich Feierabend und Bettruhe befohlen. Wir zogen uns in die uns zugedachte Scheune zurück und machten uns mit den jeweils zwei Decken die uns zu Verfügung gestellt wurden, unser Nachtlager dort zurecht, wo wir es wollten. Das Monika sich neben mich legte, sah ich als Zufall an. Oder sie hatte das kleiner Übel gewählt. Ein Blick in die Runde überzeugte mich, dass es eine friedliche Nacht werden würde. Es lag nur zusammen, wer zusammen gehörte. Außerdem, wer würde denn in Gesellschaft anderer seinen Spieltrieb und seine Lust ausleben? Kein Mensch!
Aber wie bereits beschrieben, kam es anders und ausgerechnet ich, der ich nun so gar keine Ambitionen in dieser Richtung gehabt hatte, war einer der Hauptdarsteller gewesen. Blieb die Frage nach dem Warum. Und die Frage, warum Monika tags darauf so abweisend gewesen war. Ich bekam einfach keinen Sinn dahinter.
Die Berggipfel hatten sich im Alpenglühen rot gefärbt und boten einen majestätischen Anblick. Mein Glas war leer und meine Pfeife schon lange ausgeraucht. Ich beschloss eine Ausnahme zu machen und mir eine zweite Pfeife zu gönnen. Dafür brauchte ich Tabak und eine neue Pfeife und das befand sich in meinem Zimmer. Auf dem Weg dorthin, orderte ich ein neues Glas und nahm es auf dem Rückweg mit in den Garten.