Irgendwas war anders an diesem morgen. Völlig anders. Zwar lag ich wie gewöhnlich auf der linken Seite, die Beine angezogen, aber zum einen drückte was gegen meine Rückseite und zum anderen spürte ich Finger zwischen meinen Beinen. Und es waren nicht die meinen. Nur zu genau spürte ich einen Finger in meiner Spalte und zwei Finger auf meinen Lippchen ruhen. Absolut bewegungslos, aber nicht minder angenehm.
Komisch dass ich das als erstes bemerkte und erst im zweite Anlauf, dass auch die Umgebung, in der ich mich befand, so völlig anders war. Anders und ungewohnt. Ohne mich zu bewegen versuchte ich erst einmal richtig wach zu werden. Was war geschehen? Die Erinnerung kam wieder und ohne dass es wissentlich geschah, verzog ich mein Gesicht zu einem Grinsen. Leise aufatmend kuschelte ich mich in die Decke und an den Körper hinter mir, schloss die Augen und genoss die Erinnerung.
Es war wohl so gegen 16.30 Uhr am Freitagabend gewesen, als ich durch den Personaleingang hinaus ins Freie trat. Wie ein Handtuch legte sich sofort die schwüle und heiße Luft um mich, ließ mich sofort aus allen Poren schwitzen und meine Kleider am Körper kleben. Wie unangenehm, nach den 8 Stunden Arbeitstag in klimatisierten Räumen. Ich schleppte mich über den großen Platz, der so gar keinen Schatten bot, zwängte mich zwischen der Hauswand, dem Bauzaun der großen Baustelle und einer schier unendlichen Menschenmenge hindurch und erreichte endlich die Haltestelle der S-Bahn. Glück gehabt, ich sah meinen Zug schon auf der anderen Seite der querenden Straße.
Aufatmend ließ ich mich auf einen Platz fallen und sah aus dem großen Fenster, wie die Fassaden der Häuserschlucht an mir vorbei glitt. Hier, in der Stadt, hielt die Bahn alle Nase lang, aber sobald sie aus der Stadt raus war, waren die Haltestellen in größeren Abständen, gingen die Türen seltener auf und konnte die Klimaanlage zur Wirkung kommen.
Felder, Wiesen und Bäume zogen an mir vorbei, ich kam langsam zu Ruhe, das Wochenende konnte beginnen.
Mein Name ist Evelyn Schmidt, aber ich höre lieber, wenn man mich Evi ruft. Ich bin 35 Jahre alt und Innendienstleiterin einer großen, regionalen Bank. Das bedeutet, dass ich die ganzen Servicekräfte unter mir habe, die als erste Ansprechstation für unsere Kunden da sind und die die kleinen Beratungen im Mengengeschäft vornehmen. Ein schöner Beruf, wenn auch anstrengend. Verheiratet bin ich nicht, auch nicht liiert. Nicht mehr, aber das war vor acht Jahren meine Entscheidung gewesen. Frank und ich waren einfach nicht mehr miteinander ausgekommen.
Konsequent, wie ich in diesen Dingen nun mal bin, hatte ich mich entschlossen, mein Leben radikal zu ändern. Neue Stadt, neue Wohnung, neuer Job, neue Freunde. Die ersten drei Punkte meiner Liste waren relativ einfach zu bewerkstelligen, nur das mit den Freunden klappte nicht ganz so gut. Bekannte hatte ich genug, nur eben keine richtigen Freunde mehr. Fast keine
Außer Bea, die eigentlich Beatrice hieß. Die war mir vor sechs Jahren bei einem Spaziergang über die Streuobstwiesen an einem Sonntagmittag im August regelrecht vor die Füße gefallen. Meilenweit von jeder Zivilisation entfernt, hatte ich sie langsam auf mich zu wanken sehen. Plötzlich war sie einfach zusammen gesackt. Panik kroch in mir hoch. Was sollte ich nur tun? Weit und breit war kein Mensch zu sehen. Und als ich auf sie zuging sah ich, dass die Situation wohl komplizierter war, als ich sowieso schon angenommen hatte. Ich sah den dicken Babybauch, der grotesk über ihre Hose hing. Eine Hochschwangere, auch das noch. Und sie war ohne Besinnung. Wie war das noch mal? Bewusstlose legt man auf die Seite. Aber wie ging das noch mal?
Völlig panisch zog und zerrte ich, bis sie in etwa so da lag, wie ich dachte, dass es sein müsste. Dann zitterte ich mein Handy aus der Tasche und wählte die Nummer der Polizei. Die sonore Stimme des Gegenübers, die völlige Ruhe ausstrahlte fragte mich alles, was sie offensichtlich wissen musste. Nur mit dem Ort des Geschehens hatte ich so meine Schwierigkeiten. Da gab es keinen Straßennamen, ich konnte nur beschreiben, wo ich mich etwa befand. Die Stimme am Telefon versprach Hilfe.
Als erstes kam ein Streifenwagen, doch die Beamten wussten auch nicht mehr zu tun, als ich getan hatte. Dann ertönte ein neues Sondersignal und ein Rettungswagen bahnte sich seinen Weg zu uns. Eine Frau und ein Mann in roter Kleidung kamen ohne Eile auf uns zu. Sie beugten sich über die immer noch Bewusstlose und taten Dinge, die ich nicht unbedingt verstand. Leise unterhielten sie sich, dann stand der Mann auf und ging zum Auto zurück. Beschwichtigend hob er die Hände. Alles so weit in Ordnung. Das wird wieder! Und dann hörte ich ihn unverständlich Dinge in den Hörer seines Funkgerätes sagen.
Erst dann holte er die Trage und machte sich auf den Weg zu seiner Kollegin. Während ich mit bangen Blicken verfolgte was geschah, stand ich einem der Beamten Rede und Antwort. Nein, ich hatte niemand in der Nähe gesehen, nein, die Frau hatte nichts gesagt und nicht geschrieen, nein, ich kannte sie nicht und ja, ich hatte einen Ausweis dabei.
Inzwischen war die Frau im Rettungswagen verschwunden und der Mann hüpft wieder heraus. Bevor er in die Fahrerkabine kletterte, sagte er zu mir, das haben sie völlig richtig gemacht. Seitenlage! Und das auch noch auf die richtige Seite. Respekt! Ich verstand nur Bahnhof. Er sah meinen fragenden Blick und lächelte. Wenn Sie das nächste Mal bei ihrem Frauenarzt sind, dann fragen Sie ihn mal, warum man schwangere Frauen, wenn sie bewusstlos sind, am besten auf die linke Seite legt. Er zwinkerte mit dem linken Auge. Vena Cava Compressions Syndrom, meinte er noch verschwörerisch, dann fuhr er langsam und vorsichtig los.
Ein paar Wochen später bekam ich einen netten Brief, in dem sich Bea und ihr Mann Rüdiger für meine Hilfe bedankten und mich zum Abendessen einluden. Gerne nahm ich an, lernte dabei das inzwischen geborene Töchterchen Laura und auch Rüdiger kennen. Der war eine absolute Marke für sich. So resolut und mitten im Leben stehend wie Bea war, so durchgeistigt und abwesend, ja fast lebensunfähig war Rüdiger. Diesen Mann bei der profanen Tätigkeit einen Tisch abzuwischen zu sehen, kostete Nerven und Geduld. Rüdiger war Dr.-Ingenieur im Maschinenbau und beherrschte sein Metier bestimmt von Grund auf. Aber alles andere war nicht seine Welt. Mir war bei seiner Umständlichkeit völlig schleierhaft, wie er sein Töchterchen hinbekommen hatte. Doch das schien irgendwie zu funktionieren den mit jeweils zwei Jahren Abstand bekam Bea noch Benedikt und Sophia.
Aus diesem Abend wurde dann eine richtige Freundschaft zwischen Bea und mir. Rüdiger war ja oft nicht da. Als absoluter Spezialist jettete er um den Globus um seine Dosiermaschinen erst aufzubauen und wenn sie irgendwann einmal ein Problem hatten, sie auch zu reparieren. Und so kam es nicht selten vor, dass Bea mich anrief und mich fragte, ob ich ihr nicht Gesellschaft leisten würde.
Ich muss noch was zu mir sagen. Auch wenn ich alleine lebe ist es nicht so, dass ich nicht dann und wann die Freuden der Zweisamkeit genieße. Das ist zwar nicht ganz so oft der Fall, wie ich mir das vielleicht wünschen würde, aber immer wieder kommt es vor, dass da ein Mann auftaucht, der für eine Weile Zeit und Bett mit mir teilt. Nur der Richtige, also für eine länger Zeit, war bisher noch nicht dabei.
Die S-Bahn hielt und spuckte eine Handvoll Menschen auf den Bahnsteig, mich inklusive. Noch fünf Minuten Fußmarsch und ich war endlich zu Hause in meiner kleinen, aber gemütliche Wohnung.
Als erstes schüttelte ich meine Hochhackigen von den Füßen, dann ließ ich mich auf einen Sessel fallen und massierte mir die Zehen. Schließlich stand ich auf, zog mein Kleid aus und hängte es auf einen Bügel. Nur in Slip und BH ging ich in die Küche und holte mir was zu trinken. In gierigen Schlucken das kalte Wasser trinkend überlegte ich, was ich tun sollte. Es gab mehrere Optionen. Etwas anderes anziehen und die Einkäufe erledigen, oder erst mal schön duschen und morgen einkaufen gehen. Gerade hatte ich mich für das letztere entschieden, als das Telefon klingelt. Bea!
Rüdiger muss nach Liverpool. In zwei Stunden muss ich ihn an den Flugplatz bringen. Kannst du solange auf das Gemüse aufpassen? Klar konnte ich. Ich springe nur noch schnell unter die Dusche, dann komme ich rüber! Gesagt getan, die Einkäufe mussten eben warten.
Im Hause Schröther herrschte Hektik. Doch als Bea und Rüdiger endlich weg waren, wurde es ruhiger. Ich spielte mit den beiden Großen in der Sandkiste im Garten, die Kleine wurde vom Babyphone in ihrem Schlaf bewacht. Als Bea wieder kam, bekamen Benedikt und Laura ihr Abendessen, wurden bettfertig gemach und nach einer Gute Nacht Geschichte dem Schlaf überlassen. Dann wurde Sophia, die inzwischen wach geworden war, frisch gemacht und gestillt. Während dessen saß ich vor dem Fernseher und betrachtete mir die neuesten Filme von Bea. Bea filmte ständig ihre Kinder um ihr groß werden zu dokumentieren. Gerade sah ich mir Lauras Geburtstagfeier an. Bea hatte den Film noch nicht bearbeitet und so reihte sich Szene an Szene. Die Kinder im Garten, die Großeltern an der Kaffeetafel. Später dann das gemütliche Zusammensein auf der Terrasse.
Dann plötzlich änderte sich das Bild. Bea schien nur ihren Garten gefilmt zu haben, warum auch immer. Ich sah die Hecken und Sträucher, ich sah Blumen und Bäume und dann sah ich plötzlich ihn. Erst nur den nackten Rücken. Das dunkle Haar zu einem Pferdeschwanz gebunden stand er da und beugte sich im Nachbargarten über irgend etwas. Die Kamera hielt ihn fest im Blick. Ich war etwas verwundert. So kannte ich Bea gar nicht.