Als ich an diesem Tag wach wurde, ich erinnere mich genau, war es völlig dunkel und mich herum. Und völlig still! Zumindest erschien mir das so. Das mit dem Dunkel hatte schon seine Richtigkeit. Hier war auch nicht ein Lichtteilchen zu finden, in diesem rabenschwarzen Universum. Nur ein fernes Geräusch, die Ahnung eines Geräuschs, ließ mich erst hoffen, dann glauben und schließlich wissen, dass ich nicht tot war.
Auch als ich vorsichtig versuchte, mich zu bewegen, wurde mir schlagartig klar, dass mein Leben noch nicht ganz zu Ende zu sein schien. Tote haben, soweit ich das jedenfalls weiß, keine Schmerzen. Und mir tat so ziemlich alles weh. Wirklich alles!
Zunächst natürlich der Kopf. So in etwa stelle ich mir die Situation vor, wenn man in einer metallenen Schüssel liegt und draußen stehen Leute, hunderte an der Zahl, mit Metallhämmern ständig auf das Ding hauen. Grauenhaft!
Mein Mund war trocken und die Zunge klebte am Daumen. Was hatte ich für einen Durst. Und noch viel schlimmer, was hatte ich für einen ekeligen Geschmack im Mund, so als hätte ich uraltes Leder weichgekaut und niemals ausgespuckt. Und dann waren da noch meine Ohren. Da war ein hohes Singen in ihnen und ich spürte tatsächlich meine Trommelfelle, zumindest glaubte ich, dass sie das waren.
Wo war ich nur? Warum war ich hier? Und die wichtigste von allen Fragen, wer war ich überhaupt? Zumindest das sollte ich doch wissen! Doch leider war mein Kopf für solch schwierige Fragestellungen noch nicht zu gebrauchen. Nur die mühsam eintrainierten Abläufe funktionierten noch im Unterbewussten.
Der zaghaft tastende Griff auf die linke Seite des Doppelbettes. Eine Person würde nicht drin liegen, schon lange nicht mehr. Aber meine Uhr, mein Handy und, ganz wichtig, meine Brille. Pustekuchen. Meine Hand griff buchstäblich ins Leere.
Beim mühsamen Tasten nach einem festen Gegenstand bemerkte ich einen weiteren Umstand meines Befindens. Nicht nur der Kopf und die Ohren taten mir weh! Wenn es stimmt, dass der Mensch 656 Muskeln hat, dann spürte ich jeden einzelnen von ihnen, wenn nicht noch ein paar mehr. Fast bekam ich meinen Arm nicht hoch und als ich mich auf die Seite drehte spürte ich, dass meine Hüfte, ja meine Ober- und Unterschenkel, ein einziger Schmerzsee waren. Was war da bloß los? Eine Erinnerung hatte ich nicht.
Meine tastenden Finger spürten etwas Hartes, etwas Kantiges, Glattes. Holz? Möglich! Sie tasteten weiter. Hurra! Da lag etwas, das fühlte sich wie ein Handy an. Und ein anderes Teil, wie eine Brille. Ein leicht klingendes Geräusch das ich verursachte, weil ich mit der Brille vermutlich gegen etwas gestoßen war, hallte in meinem Kopf mit gefühlten 2000 DB (A) nach. Erschöpft fiel ich in das Kissen zurück und wartete, dass der Angriff auf meine Nerven im Kopf vorüber gehen würde.
Die Brille saß auf meiner Nase, ohne dass ich mir ein Auge ausgestochen hatte. Wieder tastete ich nach links. Irgendwo musste meine Uhr liegen. Ich erwischte aber das Handy. Auch egal, das hatte auch eine Uhr.
Und ein beleuchtetes Display. Ich fühlte mich, als würde ich aus 20 cm Entfernung in den 3000 Watt Strahler einer eingeschalteten Flutlichtanlage schauen. Gequält schloss ich die Augen und trotzdem war mein Kopf noch eine ganze Weile in Aufruhr. Das Smartphone möglichst weit weghaltend und nur durch kleine Lidschlitze blinzelnd, konnte ich dann irgendwann eine Uhrzeit erkennen. 13 Uhr! Aber welcher Tag? Welches Jahr? Und, verdammt noch mal, wo war ich hier!
Ermattet blieb ich noch eine Weile liegen. Ich hatte keine Kraft, mich mit diesen Fragen eingehend zu beschäftigen. Mein Kater beanspruchte meine volle Aufmerksamkeit. Dann kroch langsam ein Gedanke in mein Hirn. Das klingende Geräusch! Im diffusen Schein des nachleuchtenden Displays hatte ich sie gesehen. Eine Flasche! Wieder quälte ich mich auf die Seite, wieder tastete ich, fand diesmal meine Uhr und auch das kalte Glas eine Flasche. Fast konnte ich sie nicht festhalten und die Anstrengung die es bedeutet, die Flasche zu öffnen, war fast mörderisch zu nennen. Und dennoch, es musste sein.
Welch eine Labsal, das Wasser in meinem Mund zu spüren, zu spüren, wie mein Durst weniger quälend wurde. Nachdem dieses vordringliche Bedürfnis gestillt war, kam ein weiteres, drängendes Bedürfnis in meine Sinn. Ich brauchte eine Toilette. Dringend sogar! Aber das war mit Problemen verbunden. Aufstehen, das Größte davon. Ich versuchte es und spürte wieder alle Muskeln. Und meinen Kopf!
Gab es hier denn kein Licht? Ich war gegen die Bettkante gestoßen. Das Handy wurde zum Leuchtquelle und dadurch zum Retter. Das da vorne musste eine Tür sein und dort gab es üblicherweise einen Lichtschalter. Ich schlich auf die Tür zu. Schon wollte ich den Schalter betätigen, der tatsächlich an der Wand war, als ich es mir überlegte. Nein, lieber nicht! Das grelle Licht, das vermutlich sofort anging, würde mir den Schädel sprengen. Lieber die Tür einen Spalt weit aufmachen und die Augen zu Schlitzen verengen. Ich tat es und dennoch sprang mich das grelle Licht des Tages wie ein Raubtier an. Ich spürte seine Krallen in meinem Gehirn.
Mit halbgeschlossenen Augen tastete ich mich durch ein unbekanntes Universum, suchte und fand die Tür zum Bad, sorgte dafür, dass meine Blase sich entspannen konnte und enterte danach die Dusche. Das kalte Wasser brachte mich halbwegs zur Vernunft. Der Kopf dröhnte zwar noch immer und die Muskeln äußerten ihren Protest, aber immerhin, so langsam wurde ich klarer. Und agiler!
Eine halbe Stunde später schlich ich halbwegs restauriert eine Treppe hinunter. Wenigstens wusste ich wieder, wo ich war und wer ich war. Ich war Tobias Spengler und ich war bei meinem Studienfreund Max und bei seiner Frau Marie. Vage erinnerte ich mich sogar an meine Ankunft am gestrigen Tag und die ersten Stunden unseres Zusammenseins. Ich konnte mich auch noch daran erinnern, dass wir zu später Stunde ins Hexenloch, einer angesagte Disco gefahren waren. Aber dann? Große Leere. Der klassische Filmriss! Mein Gott, war ich abgestürzt!
Marie stand am Herd und rührte in einem Topf herum. Sie drehte sich um, als sie mich hörte. Schuldbewusst schlich in die Küche. Guten Morgen, krächzte ich und ließ mich auf einen Stuhl sinken. Guten Morgen, schrie Marie mit ca. 100 Phone. Wie geht es dir? Das klang ziemlich spöttisch. Keine Ahnung! Ich habe gerade erst festgestellt, dass ich noch lebe. Marie lächelte. Frühstück erst mal! Nacheinander brachte sie mir einen Kaffee, eine Flasche Wasser, ein Glas mit einer trüben, sprudelnden Flüssigkeit und ein Glas mit Rollmöpsen. Marie kannte sich aus!
Mein Magen rebellierte, aber ich bezwang ihn. Mir lag eine Frage auf der Zunge, eigentlich mehrere. Aber ich fürchtete mich vor der Antwort. Marie setzte sich zu mir und sah mich starrte mich an. Alter Falter, bist du gestern abend abgestürzt! Glaube ich auch. Erzähl mal!
Angefangen hat es ja ganz friedlich. Du und Max, ihr habt hier ein Glas Sekt mit mir getrunken und euch dann in Max Zimmer zurück gezogen. Aber nach einer halben Stunde wart ihr schon wieder da. Was ihr da geredet habt, weiß ich nicht, aber Max meinte, wir würden am Abend noch weg gehen. Er wolle dir zeigen, wo wir uns kennen gelernt haben, warum auch immer. Und so sind wir dann so gegen 23.00 Uhr ins Hexenloch gefahren. War eigentlich ein gemütlicher Abend. Viel getrunken haben wir gar nicht. Dann sind Max und ich tanzen gegangen und als wir wieder kamen, warst du weg. Sie sah mich mit ihren großen Augen an. So langsam dämmerte mir etwas. War ich nicht auf de Suche nach weiblicher Gesellschaft in die sogenannte Lounge gegangen? Mir schien so.
Ich habe dich dann irgendwann auf der Tanzfläche entdeckt. Sie grinste schief. Mit so einem blonden Gestell! Plötzlich hielt sie wieder inne und sah mich an. Tanzen kannst du nicht, oder? Ich nickte. Tanzen war nicht meine Stärke. Hat man gesehen, warst ziemlich steif in der Hüfte. Das schien die Blonde auch zu denken, denn sie hielt dich am Arm fest, sagte was zu dir und ließ dich stehen. Ich erinnerte mich undeutlich.
Du hast es wieder und wieder versucht. Immer mit blonden Frauen. Sah schon tragisch aus, wie du dir einen Korb nach dem anderen geholt hast. Seltsamerweise grinste sie dabei ziemlich spöttisch.
Irgendwann hast du es mal mit einer anderen Haarfarbe versucht. Mit einer Roten. Das schien besser zu klappen, jedenfalls hat sie länger durchgehalten und ist dann mit dir in die Lounge verschwunden. Ziemlich lange sogar. Wieder war da so ein spöttisches Grinsen in ihrem Gesicht. Und dann? Nichts, und dann. Ihr seid auf der Tanzfläche rumgehüpft, seid verschwunden, seid auf der Tanzfläche rumgehüpft, seid verschwunden. Ziemlich lange.
Jetzt schwieg sie und sah auf den Tisch. Und dann hast du sie zu uns an den Tisch geschleift und sie uns versucht vorzustellen. Aber du wusstest ja noch nicht mal ihren Namen. Maries Blick wurde undurchdringlich. Die Vorstellung hat sie dann selbst übernommen. Du hast sie gebeten sich hinzusetzen und bist nach Getränken weg gegangen.
Kennt ihr das? Alles ist unklar, der totale Filmriss und dann plötzlich, mit einem Schlag, wisst ihr alles wieder. So ging es mir. Marie, Max, die Lounge, die Tanzfläche. Und die Frau! Die Frau ohne Namen, die Frau, die plötzlich weg war. Einfach so. Weg! Nicht mehr da!
Wie ein Depp stand ich mit den Getränken da. Erst dachte ich, sie sei auf Toilette. Doch sie kam nicht wieder. Auf meine Frage erntete ich nur betretenes Schweigen von Marie und Max.
Ich hatte die Getränke auf den Tisch gestellt und mich auf die Suche gemacht. Es behagte mir gar nicht, einfach so stehen gelassen zu werden. Doch ich konnte die Frau nicht finden. Weder in der Lounge, noch auf der Tanzfläche, noch draußen auf dem Vorplatz.