Kommst du endlich? Der drängelnde Ton, aber noch viel mehr die Haltung, die Gestik meines männlichen Begleiters machten seine Ungeduld mehr als deutlich. Wie er da, kaum 10 Meter von mir weg, am Fuß der Treppe stand, hippeling von einem Fuß auf den anderen trat und mit seinen Händen nach mir zu greifen schien. Jetzt komm doch endlich! Oh ja, der junge Mann hatte es eilig, sehr sogar. In seinen Augen leuchtete die pure Vorfreude.
Und ich? Wie war das bei mir? Ich hatte es weniger eilig, bereute schon seit geraumer Zeit mich auf das Abenteuer eingelassen zu haben. Nicht dass ich grundsätzlich etwas dagegen gehabt hätte. So schön gemütlich, ohne Hektik in der Sonne, das hätte mir schon gefallen. Aber Leon war dafür nicht zu haben. Aktion war angesagt, dass wusste ich von Maritta, die froh war, dass er mit mir fortgegangen war. Mann, bist du langsam! Entschuldige bitte, ich trage ja auch die ganzen Sachen. Und außerdem, eine alte Frau ist kein D-Zug. Er grinste schief und schien sich zu überlegen, ob er etwas sagen sollte. Es musste ihm auf der Zunge liegen, aber um es nicht mit mir zu verscherzen, unterließ er es offensichtlich. Ganz schön raffiniert das Bürschchen!
Während ich hinter ihm herlief versuchte ich mich auf das Kommende einzustellen. Nicht zum ersten Mal fragte ich mich, ob ich seinem jugendlichen Übermut und seiner schier unerschöpflichen Ausdauer gewachsen war. Obwohl ich mich selbst nicht wirklich alt fühlte, oder zumindest nur selten, hatte ich doch Bammel. Der Altersunterschied von immerhin 23 Jahren war doch gewaltig.
Plötzlich blieb er stehen. Hier!? Das war gleichzeitig eine Frage, klang aber auch ein klein wenig nach Befehl. Ich sah mich um. Der Platz war nicht schlecht gewählt. Etwas abseits und doch mitten drin. Ich stellte die große Tasche ab und zog mir den Rucksack vom Rücken. Leon war nicht gewillt, auch nur einen Moment länger zu warten. Ruckzuck befreite er sich von seinen Klamotten und stand plötzlich nackend vor mir. Warum brauchst du nur so lange? Das klang nicht mehr nur quengelig, das war pure Ungeduld. Das konnte heiter werden.
Mit einem kurzen Blick streifte ich ihn, während er nach vorne gebeugt die Tasche durchwühlte. Derweil breitete ich die Decke aus. Leon zog und zerrte, kehre das Unterste zu oberst und hatte endlich gefunden, was er gesucht hatte. Und wieder traf mich sein ungeduldiger Blick. Und wieder trat er von einem Bein aufs andere. Doch ich ließ mich nicht beirren. Als die Decke lag, kramte ich in der Tasche und verschwand. Im Gegensatz zu Leon hatte ich nicht die Absicht, mich hier sozusagen coram publico auszuziehen.
Kaum war ich drei Schritte gegangen, kam er mir auch schon hinterher. Danke. Ich glaube, das kann ich auch alleine! Mein Blick nagelte ihn fest. Er ließ sich ins Gras fallen. Das dauert aber so lange bei dir! Du wirst schon die zwei Minuten Geduld haben! Damit ließ ich ihn zurück.
Kaum war ich wieder zum Vorschein gekommen , rappelte er sich hoch und drehte sich ohne ein Wort um. Ehrlich gesagt, hatte ich auch nicht erwartet, dass er etwas sagen würde. Ohne sich nach mir umzusehen, lief er seinem Ziel entgegen. Langsam und widerstrebend folgte ich Leon. Nein, ich hatte wirklich keine Lust!
War Leon am Anfang noch ziemlich schnell gegangen, wurde er jetzt doch langsamer, blieb sogar stehen und sah sich nach mir um. Als ich ihn erreichte, tastete er zaghaft nach meiner Hand. Ich freue mich wirklich drauf! Doch die Angespanntheit in seinem Gesicht und die immer mehr zunehmende Nervosität, straften ihn Lügen. Ich lächelte trotz meiner eigenen Bedenken still in mich hinein. Er war also doch nicht er große Held und Macho, für den er so gerne gegolten hätte.
Und dann waren wir am Ziel. Ich spürte den Druck in seiner Hand, spürte, wie er sich an mich lehnte. Ganz schön groß, findest du nicht? Ich antwortete nicht. Recht hatte er! Aus der Nähe sah das Ding noch viel größer aus, als aus der Ferne. Jetzt hörte ich auch die typischen Geräusche. Laute Stimmen, die kreischten. Hohe Mädchenstimmen in der Mehrzahl. Nur langsam schoben wir uns dem Eingang entgegen.
Am Ziel angekommen, presste sich Leon fest an mich. Ich spürte die Anspannung in ihm und ich konnte seinen schellen Atem hören. Sein Herz klopfte aufgeregt. Meines auch und trotz der Umgebung hatte ich einen trockenen Mund. Nur noch Sekunden und dann würde es soweit sein.
Und plötzlich gab es kein oben und kein unten mehr. Wie im freien Fall stürzten wir uns, fest aneinander geklammert, in das Abenteuer. Alles war feucht um mich herum. Ich hörte Leon aufschreien, als es immer schneller und schneller wurde. Auch ich schrie, zumindest glaube ich das. Wie in Serpentinen ging es abwärts und plötzlich war da gar nichts mehr. Nur noch ein Flug und dann ein Aufprall. Ich bekam keine Luft mehr und verlor den Kontakt zu Leon. Und dann war nur noch Wasser um mich herum.
Schnell strampelte ich mich hoch und holte tief Luft. Es war vorbei. Ich war dieser Wahnsinns Wasserrutsche lebend entkommen. Neben mir tauchte prustend das Gesicht Leons aus dem Wasser auf. Pure Freude, gepaart mit Stolz sah ich in seinen Augen. Das war super! Gleich noch mal! Und schon paddelte er mit seinen kurzen Ärmchen dem Beckenrand entgegen. Ich half ihm ins Trockene. Er schüttelte sich wie ein junger Hund und zog seine Badhose wieder hoch. Komm! Und schon rannte er wieder auf den Eingang der Rutsche zu. Ich hatte eigentlich genug, aber was tut man nicht alles für sein Patenkind?
Maritta, Leons Mutter, und ich sind seit dem Kindergarten befreundet. Ich war die Vertraute ihrer kleinen Geheimnisse, genauso, wie ich ihr alles anvertraute, was mich bewegte. Selten stritten wir uns und wenn doch, dann war der Streit nie von langer Dauer. Außer das eine Mal, als Maritta den gleichen Jungen wie ich im Visier hatte, Torsten, der Sohn unseres Mathelehrers. Das war ein echtes Zerwürfnis gewesen, denn ich war mit Torsten in der Nachmittagsvorstellung im Kino gewesen und als wir auf dem Heimweg waren, hatte er mich im Schatten der großen Kastanie an der Bushaltestelle geküsst. Ein einziger Kuss, schüchtern, flüchtig, aber er hatte alles in mir freigelegt, was tief verborgen in mir schlummerte.
Kaum war ich zu Hause, rief ich Maritta an, doch ihre Mutter sagte mir, sie sei noch mal weg gegangen, würde aber so gegen 20.00 Uhr zu Hause sein. Ob sie mich anrufen sollte? Natürlich sollte sie, ich wollte ihr von meinem ersten richtigen Kuss erzählen. Doch Maritta rief nicht an. Auch am nächsten Tag, dem Sonntag meldete sie sich nicht. Erst am Montag sah ich sie wieder in der Schule. Verschwörerisch sah sie mich an und zerrte mich in die Mädchentoilette.
Ich habs getan! Sagte sie atemlos und mit roten Bäckchen. Was denn? Tief sah sie mir in die Augen. Geküsst! Flüsterte sie. Und bevor ich noch fragen konnte, sagte sie, selig lächelnd, Torsten! Mir blieb fast das Herz stehen. Sie hatte meine Hände umfasst und grinste mich an. Wortlos befreite ich mich von ihr und verließ mit gebrochenem Herzen die Toilette.
In der Folge fielen harte Worte. Ich konnte ihr lange nicht verzeihen, dass sie mir Torsten ausgespannt hatte. Denn dass sie ihn verführt hatte, war mir klar. Erst viel später erfuhr ich, dass Torsten ein Hallodri war, der es bei jedem Mädchen versuchte.
Es dauerte eine Weile, bis die Wunden verheilt waren und wir wieder unbefangen miteinander umgehen konnten. Jahre gingen ins Land, jede von uns verliebte sich und entliebte sich wieder. Maritta blieb dann bei Jerome, einem Jungen mit französischen Eltern, den sie beim Tanzkurs kennen lernte. Sie zogen zusammen und heirateten. Und als Leon auf die Welt kam, wurde ich seine Patentante. Leon hat vor einer Woche seinen 5. Geburtstag gefeiert und der Besuch im Erlebnisbad, war sozusagen, ein Teil meines Geburtstagsgeschenkes für ihn.
Und ich? Nun, ich bin nicht verheiratet und habe keine Kinder. Von meinem langjährigen Freund Thomas habe ich mich vor einem viertel Jahr getrennt. Einvernehmlich. Es passte nicht mehr zwischen uns. Unsere Interessen divergierten mehr und mehr. Thomas war am liebsten zu Hause, lungerte auf dem Sofa herum und wenn er das Haus verließ, dann nur um auf den Fußballplatz zu gehen. Ich wiederum war mehr dafür zu haben auszugehen, mich mit Leuten zu treffen mich zu unterhalten.
Es war in der ersten Zeit nicht einfach, sich wieder an das Singleleben zu gewöhnen. Es gab so manchen Abend, an dem ich es vermisste, mit Thomas auf der Couch zu kuscheln, aber wenn solche Momente der Einsamkeit auftauchten, gab ich mir einen Ruck und schüttelte das Unbehagen ab. Und manchmal war es auch schön, den Verlockungen des Lebens nachzugeben. Es war niemand mehr da, auf den ich Rücksicht nehmen musste und so unternahm ich Städtereisen, machte Kurzurlaube, manchmal auch nur für ein verlängertes Wochenende und wenn sich die Gelegenheit ergab, ließ ich es auch zu, dass aus einer flüchtigen Bekanntschaft für kurze Zeit mehr wurde.
Viermal noch bezwangen Leon und ich die Rutsche, dann hatte selbst er genug und wir gingen zurück an unseren Platz. Geringschätzig sah er mir nach, als ich zur Tonne ging, um meinen nassen Badeanzug gegen einen trockenen Bikini zu tauschen. Er selbst weigerte sich, sich abzutrocknen, geschweige denn seine Badehose zu wechseln. Ich bin doch kein Mädchen! Wies er empört meine diesbezüglichen Hinweise ab. Von mir aus, warm genug war es ja.
Leon hatte keine Ruhe und teilte mir mit, dass er jetzt zum Spielplatz gehen würde. Da der in Sichtweite war, gab ich meine Zustimmung und kramte mein Buch aus der Tasche. Mal sehen, wie lange er mich in Ruhe lassen würde.